Urteil Kantonsgericht Zug vom 27. Mai 2019: Kein „ausgeglichener Arbeitsmarkt“ im Haftpflichtrecht – Hypothetisches Invalideneinkommen trotz voller theoretischer Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit null Franken 

In einem von uns geführten Haftpflichtprozess hat das Kantonsgericht des Kantons Zug in einem mittlerweile rechtskräftigen Urteil das hypothetische Invalideneinkommen eines Bauleiters auf Fr. 0 festgesetzt.

Worum ging es?

Der damals 56-jährige Kläger verunfallte im Jahr 2012, als ein Sattelschlepper praktisch ungebremst in das Heck seines stehenden PKW fuhr. Er zog sich dabei unter anderem eine schwere Fussverletzung zu. Die Tätigkeit als Bauleiter konnte er nach dem Unfall aufgrund der Verletzungen dauerhaft nicht mehr ausüben. Medizinisch vollumfänglich zumutbar sei hingegen eine leichte, wechselbelastende Tätigkeit. Es gelang dem Kläger allerdings nicht mehr, eine solche angepasste Tätigkeit zu finden.

Im Zivilprozess war unter anderem strittig, ob dem Kläger ein hypothetisches Invalideneinkommen angerechnet werden darf, mithin ob ihm eine Verletzung der Schadenminderungspflicht vorgeworfen werden kann. Durch mehrere Zeugenaussagen konnte erstellt werden, dass qualifizierte Bauleiter zwar sehr gesucht seien. Es gäbe hingegen kaum eine Nachfrage nach Bauleitern, die wie der Kläger, sich nicht mehr auf eine Baustelle begeben können. Eine Trennung der Büroarbeiten von den eigentlichen Bauleitertätigkeiten werde nicht – auch nicht von den grossen „Playern“ auf dem Markt – praktiziert, weil dies nicht effizient sei und daher wirtschaftlich keinen Sinn mache.

Das Kantonsgericht weist in seinem Urteil zunächst darauf hin, dass die Verletzung der Schadenminderungspflicht von der Beklagten zu behaupten und nachzuweisen ist. Das Bundesgericht habe zwar Vermutungsregeln aufgestellt und bei einer Arbeitsfähigkeit von mehr als 50% sei von einer wirtschaftlichen Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit auszugehen. Diese Regeln des Bundesgerichts seien allerdings zu präzisieren und nur in Fällen anzuwenden, in denen eine Restarbeitsfähigkeit in der angestammten Arbeit vorliege oder aber nachgewiesen sei, dass angepasste Arbeitsplätze überhaupt vorhanden sind. Die Fiktion des ausgeglichenen Arbeitsmarktes gelte im Haftpflichtrecht nicht (Urteil, S. 24). Da die Beklagte zudem nicht aufzeige, welche konkreten Stellen der Geschädigte besetzen könnte, sei weder notorisch noch von der Beklagten behauptet, in welcher Höhe dem Kläger ein hypothetisches Einkommen möglich und zumutbar wäre (Urteil, S. 26). Das Kantonsgericht ging daher von einem Invalideneinkommen von Fr. 0.– aus und hiess in der Folge die Teilklage über den Erwerbsschaden im Betrag von Fr. 250‘000.– vollumfänglich gut.

Kommentar: Das Urteil ist sehr zu begrüssen. In der Tat ist es selbst für gesunde über 50-jährige Arbeitslose enorm schwierig, in der heutigen Arbeitswelt eine Stelle zu finden. Menschen mit einer Beeinträchtigung sind auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich stark benachteiligt. Die Situation hat sich in den vergangen Jahren zudem enorm verschärft. Der Anteil der über 55-Jährigen in der Sozialhilfe ist geradezu explodiert, währendem der Anteil bei der IV trotz steigender Bevölkerung zurückgeht:

Es ist haftpflichtrechtlich nicht zu begründen, weshalb der Geschädigte, welcher auf Grund eines unverschuldeten Unfalls seine Arbeit verliert, die harten Realitäten des Arbeitsmarktes selber tragen sollte (Vgl. dazu auch Deecke/Kurmann, Gedanken zum haftpflichtrechtlichen Invalideneinkommen, in: HAVE 4/2018). Viel zu oft wird in der Schadenregulierungspraxis unbesehen das theoretische Einkommen, welches die Sozialversicherungen unter Bezugnahme auf den ausgeglichenen Arbeitsmarkt eruiert haben, abgestellt. Es werden zudem regelmässig zu hohe Anforderungen an die Erfüllung der Schadenminderungspflicht gestellt.