Asbest: Long story short
21. März 2024
Die Schweiz kommt bei Asbestfällen ihren Verpflichtungen noch immer nicht nach!
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) rügt die Schweiz im von schadenanwaelte erstrittenen Urteil vom 13. Februar 2024 nun zum zweiten Mal. Exakt vor 10 Jahren hatte der Gerichtshof auf Beschwerde von Schadenanwalt David Husmann hin festgestellt, dass den Hinterbliebenen von Hans Moor der Zugang zu den Gerichten verwehrt wurde. Bei Hans Moor wurde mehr als 20 Jahre nach seiner letzten Asbestexposition im Turbinenbau ein Pleuramesotheliom diagnostiziert. Seine vor dem Arbeitsgericht Baden gegen die Alstom angestrengte Klage wurde von allen Instanzen infolge Verjährung abgewiesen. Der Gerichtshof hielt für konventionswidrig, dass Hans Moor nicht an ein Gericht gelangen konnte, welches seine Ansprüche materiell (effectively) beurteilte. Er hielt fest, dass Ansprüche aus Körperschädigungen nicht verjähren dürfen, solange das Opfer – objektiv-wissenschaftlich – keine Möglichkeit hat, die Schädigung zu erkennen. Im Fall von Marcel Jann verhält es sich nicht wesentlich anders.
Bei ihm wurde der Asbestkrebs mehr als 30 Jahre nach dem letzten Kontakt diagnostiziert. Marcel Jann ist neben den Eternit-Werken in Niederurnen aufgewachsen, war aber – als Lehrer – beruflich nie Asbeststaub ausgesetzt. Seine Strafklage wurde 2006 abgewiesen und 2009 – 37 Jahre nach der letzten Exposition – hat seine Familie Zivilklage vor dem Zivilgericht Glarus erhoben. Es brauchte mehr als 10 Jahre, bis das Bundesgericht letztinstanzlich zum gleichen Schluss gelangt: Ansprüche verjährt!
Zwar ist in der Schweiz in Sachen Asbest einiges passiert: Es darf als eine grosse Errungenschaft des Vereins für Asbestopfer, von schadenanwaelte und der Sozialpartner betrachtet werden, dass am runden Tisch unter Leitung von altBundesrat Leuenberger ein Entschädigungsfond für Asbestopfer beschlossen wurde. Auch hat das Parlament die Verjährungsfristen in Asbestfällen und bei anderen Spätfolgen von 10 auf 20 Jahre erhöht, im Wissen, dass die Latenzzeiten bei Asbestopfern in der Regel bei 25 bis 40 Jahren oder mehr liegen.
Schadenanwalt Martin Hablützel hat für die Hinterbliebenen von Marcel Jann gegen den bundesgerichtlichen Entscheid Beschwerde an den EGMR geführt. Der Gerichtshof verweist auf seine Rechtsprechung zum Fall Moor und betont, dass der Gerichtsweg auch 37 Jahre nach der letzten Exposition offenstehen müsse. Er stellt fest, dass in Anbetracht der langen Latenzzeiten davon ausgegangen werden könne, dass asbestbedingte Ansprüche bei einer zehnjährigen Verjährungsfrist immer verjähren und wahrscheinlich auch sehr häufig bei einer zwanzigjährigen Verjährungsfrist nach den neuen innerstaatlichen Bestimmungen (Ziff. 79).
Weiter stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesgericht keine materielle Prüfung der Entschädigungsansprüche der Kläger vorgenommen habe. Die Frage sei nämlich nicht so sehr, ob eine zehn- oder zwanzig- oder dreissigjährige oder noch längere absolute Verjährungsfrist theoretisch mit der Konvention vereinbar sein könne. Entscheidend sei vielmehr, ob ihre Anwendung – nämlich der Zeitpunkt, in welchem die Verjährungsfrist zu laufen beginne sowie eine etwaige Unterbrechung der Verjährungsfrist – mit der Konvention vereinbar seien (Ziff. 80). Dies hat es im Fall Jann und damit generell klar verneint, weil die Verjährungsfrist gemäss schweizerischem Recht eben im Zeitpunkt beginnt, wo das Asbestopfer letztmals der Exposition ausgesetzt war.
Mit Blick auf den Entschädigungsfond stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Einreichung ihres Antrags beim Gerichtshof im Januar 2020 nicht zum Kreis der potenziellen Begünstigten gehörten. Darüber hinaus scheine kein Anspruch auf Leistungen gegenüber der Stiftung EFA zu bestehen, handle es sich doch um eine privatrechtliche Stiftung, deren Entscheidungen nicht gerichtlich angefochten werden können. Ausserdem könne man Leistungen der Stiftung nur unter der ausdrücklichen Bedingung erhalten, dass man auf die Möglichkeit verzichte, Ansprüche in einem Gerichtsverfahren geltend zu machen (Ziff. 77). Asbestopfer können also nicht verpflichtet werden, ihre Ansprüche der Stiftung EFA geltend zu machen, auch wenn dies die Mehrzahl der Opfer tatsächlich vorzieht.
Der Entscheid ist bahnbrechend. Er kippt damit bei Personenschäden die absoluten Verjährungsfristen für alle Staaten des Europarats, mindestens soweit solche im Zeitpunkt der letzten Exposition zu laufen beginnen, keine Unterbrechung vorsehen und nicht berücksichtigen, wann das Opfer tatsächlich Kenntnis von seiner Erkrankung nehmen kann.
Das Urteil erlangt weit über die Asbestproblematik hinaus Bedeutung und wird Anwendung überall dort finden, wo Spätfolgen für den Menschen nicht absehbar sind (Stichworte: Funkantennen, Strahlen bei Mobiltelefonen, Gen- oder Nanotechnologie, Humanforschung, Medikamente, Lifesciences u.a.). Sie ist geeignet, die Wirtschaft und die verantwortlichen Betriebe – unabhängig von staatlichen Verjährungsfristen – Jahrzehnte später noch in die Pflicht zu nehmen. (s. dazu auch den Bericht des SRF)
Das Eidgenössische Justizdepartement hat nun bis Mitte Mai 2024 die Möglichkeit, den Entscheid bei der grossen Kammer des EGMR anzufechten. Unterlässt es dies, so muss das Bundesgericht auf Revision der Familie Jann hin seinen Entscheid aus dem Jahre 2019 aufheben mit der Folge, dass das Gericht in Glarus die Klage auf Schadenersatz und Genugtuung an die Hand nehmen und prüfen muss. Das ist – trotz der Freude über den Sieg in Strassburg – ein Hohn für die Familie Jann. Marcel Jann hatte seine Ansprüche noch zu seinen Lebzeiten erhoben und nun wird sich mehr als 20 Jahre später erstmals das unterste Gericht wirklich mit diesen Ansprüchen befassen müssen.
Zurecht hat der Gerichtshof für Menschenrechte auch das schleppende Verfahren vor dem Bundesgericht gerügt (vgl. Ziff. 88 ff.). Dieses brauchte mehr als sechs Jahre, um bloss über die Frage der Verjährung zu entscheiden.
Jedes schweizerische Gericht wird sich bei Klagen von Asbestopfern nun über die geltenden Schweizerischen Verjährungsbestimmungen hinwegsetzen müssen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist für die innerstaatlichen Gerichte verbindlich und zwar nicht nur im Einzelfall – wovon das Bundesgericht ausgeht – sondern generell. Die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) und die Rechtsprechung des EGMR dazu sind Teil des schweizerischen Rechts.