BGE 4A_554/2013 und BGE 4A_229/2013, beide vom 6. November 2019: Die Erde ist eine Scheibe – oder wie sich das Bundesgericht unablässig weigert, Asbestopfern den Zugang zu ihrem Recht zu verschaffen

Kürzlich hatte das Bundesgericht erneut Gelegenheit, seine Praxis zur Verjährung bei Asbestopfern anzupassen. Die Familie eines Lehrers, der als Kind neben den Eternitwerken in Niederurnen/GL in den 60-er und 70-er Jahren aufgewachsen war und die Angehörigen eines Angestellten der BLS Werke in Bönigen/BE, welcher an seinem Arbeitsplatz mutmasslich bis Mitte der 90-er Jahre Asbeststaub ausgesetzt war – beide an der Asbesterkrankung verstorben – erhoben Klage vor den glarnerischen und bernischen Zivilgerichten.

Während das Bundesgericht eine Berufung gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern gutgeheissen hat, hat es jene gegen den Obergerichtsentscheid aus dem Kanton Glarus abgewiesen.

Bei beiden Entscheiden hält das Bundesgericht an der absoluten Frist von 10 Jahren fest. Beim Beginn des Fristenlaufs stellt es auf die letzte Pflichtverletzung im Umgang mit Asbest ab. Nachdem im Berner Fall diese Frist möglicherweise ganz knapp gewahrt werden kann, ist ein Strafverfahren im Glarnerland erst mehr als 30 Jahre nach der letzten Asbestexposition und die Zivilklage 37 Jahre danach eingeleitet worden. Wissenschaftlich ist anerkannt, dass die Erkrankungen an einem Pleuramesotheliom (asbestbedingter Brustfellkrebs) häufig eine Latenzzeit von 30 und mehr Jahren aufweisen.

Diese Praxis, wonach auch bei Personenschädigungen mit Langzeitfolgen, auf eine Frist von 10 Jahren ab letzter Asbestexposition abgestellt wird, verletzt Schweizer Recht und die Europäische Konvention der Menschenrechte (EMRK).

Im vergleichbaren Fall Howard Moor hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 11. März 2014 (No 52067/10 u. 41072/11)unmissverständlich entschieden, dass die systematische Anwendung von Verjährungsregeln bei Opfern von Schädigungen mit Langzeitfolgen das Recht auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.

Korrekterweise hat das Bundesgericht seinen konventionswidrigen Entscheid Howard Moor damals revidiert und publiziert (BGE 142 I 42). Auch in der Zwischenzeit hat es in Entscheiden mehrmals auf die Praxis des EGMR Bezug genommen (BGE 143 V 312, S. 319; Urteil 4A_558/2017 E. 5.3.1; 4A_280/2013 E. 5.3 u.a.).

ABER: Bei Ansprüchen von Asbestopfern bleibt das Bundesgericht restriktiv!

Es macht dabei nicht etwa geltend, der Gesetzgeber habe neulich eine Frist von 20 Jahren vorgesehen und diese Bestimmung werde indirekt auch auf frühere Asbestfälle angewandt (Urteil Eternit Erw. 3). Es macht auch nicht geltend, neueres Schweizerisches Recht breche internationales Recht, wie die Beklagten mit Hinweis auf die sogenannte „Schubert-Praxis“ monierten (Erw. 7). Das Bundesgericht verweist die Opfer auch nicht an den Entschädigungsfonds für Asbestopfer und Angehörige (EFA) und begründet damit das Festhalten an einer absoluten Verjährungsfrist von 10 Jahren (Erw. 3.3 u. 8.3).

Das Bundesgericht hält fest, die EMRK verlange ein faires, unabhängiges Gerichtsverfahren nur dort, wo nationale materielle Ansprüche bestehen würden. Aber weil die Verjährung ein materielles Rechtsinstitut sei, bestünden in der Schweiz nach Ablauf von 10 Jahren eben gar keine Ansprüche von Asbestopfern mehr (Erw. 8.2). Zudem habe sich der EGMR ja nicht gegen das Prinzip der absoluten Verjährungsfristen gewandt, wie das Urteil Stubbings u.a. gegen Vereinigtes Königreich vom 22.10.1996 (Recueil Cour CEDH 1996-IV S. 1487) zeige (Erw. 8.2). Es sei somit nicht unverhältnismässig, einen Anspruch, der erst rund 37 Jahre nach der letzten Schädigung eingeklagt werde, als verjährt zu betrachten und die Klage sei deshalb abzuweisen (Erw. 8.3).

Das Bundesgericht bedient sich eines seltsamen Konstrukts, wenn es das materielle Recht völlig losgelöst vom Prozessrecht betrachten und damit internationales Recht ausschalten will. Ein faires Verfahren nach der Menschenrechtskonvention setzt voraus, dass Ansprüche durchgesetzt werden können; und zu behaupten: Asbestopfer – deren Erkrankung regelmässig erst Jahrzehnte nach der Asbestexposition ausbrechen – hätten gar keine Rechte, ist nicht nur diskriminierend, sondern falsch, muss sich doch die beklagte Partei auf die Verjährung mittels Einrede überhaupt berufen. Dem Bundesgericht ist im Übrigen hinlänglich bekannt, dass der EGMR die staatlichen Verjährungsbestimmungen respektiert, solange diese eben nicht systematisch Personen an der Rechtsdurchsetzung hindern.

Insofern ist die Begründung in doppelter Hinsicht unbehelflich und sie provoziert geradezu den Weiterzug des Entscheides an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Unter der beharrlichen Weigerung des Bundesgerichts, die EMRK und die Entscheides des EGMR zu respektieren, leidet der Schweizerische Rechtsstaat. Zudem übergeht das Bundesgericht den Willen des Schweizer Stimmvolkes, welches die Volksinitiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“ (sog. Selbstbestimmungsinitiative) im November 2018 klar bachab schickte.

Zu allererst ist es aber eine Zumutung für die Angehörigen der Asbestopfer, welche Jahrzehnte darauf warten müssen, bis sich ein Gericht der Sache überhaupt annimmt. Ganz davon zu schweigen, dass die Familie des Lehrers obendrauf noch verpflichtet wurde, die Gerichtskosten der drei Instanzen von insgesamt CHF 20’000.- zu berappen und den äusserst finanzkräftigen Gegnern eine Parteientschädigung von total CHF 60’000.- zu bezahlen.