Witwerrente – Diskriminierende Umsetzung des Urteils des EGMR

15. Dezember 2022

Verstirbt eine Ehepartnerin oder ein Ehepartner bzw. eine eingetragene Partnerin oder Partner, besteht gemäss geltendem Recht Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente der AHV, sofern die Witwe oder der Witwer im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben. Im Unterschied zur Witwenrente erlischt die Witwerrente jedoch mit Erreichen der Volljährigkeit des jüngsten Kindes. Diese Ungleichbehandlung der Witwen und Witwer wurde kürzlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als eine der Europäischen Menschenrechtskonvention zuwiderlaufende Rechtsverletzung gerügt, wogegen die Schweiz Berufung einlegte. Am 11. Oktober 2022 bestätigte nun die Grosse Kammer den Entscheid des EGMR, womit er für die Schweiz verbindlich wurde. Doch was bedeutet der Entscheid konkret für betroffene Witwer und wie wird der Entscheid des EGMR umgesetzt?

Seit dem Urteil der Grossen Kammer des EGMR erreichen uns Anfragen von Betroffenen, welche auf ein Wiederaufleben ihrer eingestellten Witwerrenten gehofft haben, deren Neuanmeldungen bzw. Wiedererwägungsgesuche jedoch alle abgelehnt wurden. Die Ablehnungen beruhen auf der Übergangsregelung mit Wirkung ab 11. Oktober 2022 für laufende und künftige Witwerrenten des Bundesamtes für Sozialversicherungen BSV, welche im Anschluss an das Urteil des EGMR geschaffen wurde. Sie soll die Rechtslage bis zum Inkrafttreten einer nächsten AHVG-Revision regeln. In der entsprechenden Mitteilung werden die Ausgleichskassen angewiesen, Witwer mit Kindern gleich zu behandeln wie Witwen mit Kindern, indem die gewährte Witwerrente nicht mehr mit Vollendung des 18. Altersjahres des jüngsten Kindes endet, sondern – wie im Fall der Witwenrente – unbefristet ausgerichtet wird.

Das Urteil des EGMR hat gemäss dieser Übergangsregelung keine rückwirkende Wirkung. Dies hat zur Folge, dass die Übergangsregelung nicht auf alle Witwer mit Kindern anwendbar ist. Die Übergangsregelung betrifft folglich nur Witwer, die Kinder haben und deren Rente am 11. Oktober 2022 noch ausbezahlt wurde oder bei denen die Verwitwung nach dem 11. Oktober 2022 eingetreten ist. Ebenso betroffen sind Witwer mit volljährigen Kindern, welche das Erlöschen der Rente angefochten haben und in deren Verfahren noch kein rechtskräftiger Entscheid vorliegt.

Die Verlierer sind somit Witwer, deren Witwerrenten am 11. Oktober 2022 aufgrund der Volljährigkeit des jüngsten Kindes bereits eingestellt wurden und das Erlöschen der Rente nicht angefochten haben. Gemäss der erwähnten Übergangsregelung haben diese Witwer nach wie vor kein Anrecht auf eine unbefristete Witwerrente. Dies obwohl es sich dabei um eine Konstellation handelt, welche mit der vom EGMR beurteilten Situation identisch ist. Folglich führt die Übergangsregelung des BSV erneut zu einer Ungleichbehandlung von Witwern mit Kindern – konkret von Witwern, deren jüngstes Kind am 11. Oktober 2022 bereits volljährig war.

Wir erachten diese Ungleichbehandlung als diskriminierend und sind der Ansicht, dass den Witwern mit Kindern – unabhängig von deren Alter – der Zugang zu einer unbefristeten Witwerrente mindestens ab Rechtskraft des EGMR-Urteils am 11. Oktober 2022 gewährt werden sollte. Auch sie erfüllen sämtliche Voraussetzungen gemäss Art. 23 AHVG, welcher keine Differenzierung aufgrund des Alters der Kinder vorsieht.

Wir empfehlen betroffenen Witwern, eine Neuanmeldung der Witwerrente mit Anspruchsbeginn per 11. Oktober 2022 vorzunehmen, und sich in der Folge gegen eine abschlägige Verfügung der Ausgleichskasse zu wehren, damit sämtliche möglichen Ansprüche gewahrt bleiben. Am Ende wird wohl erst die Revision des AHVG oder ein erneuter Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für abschliessende Klarheit sorgen.

Urteil der Grossen Kammer des EGMR vom 11. Oktober 2022

Mitteilungen an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen Nr. 460