Wenn Kinder einen Schaden anrichten

12. Juni 2024

«Kinder dürfen in ihrer Bewegungsfreiheit nicht zu sehr gehemmt werden», schreibt das Bundesgericht in einem viel zitierten Entscheid (BGE 95 II 255). Lässt man den Kindern jedoch den notwendigen Raum und die Freiheiten, die zu einer gesunden Entwicklung notwendig sind, kann es dazu kommen, dass Schäden entstehen: Beim Ballspielen geht eine Sache zu Bruch, beim Streit wird ein anderes Kind gestossen und verletzt sich, der Steinschleuderschuss trifft eine Person oder ein Fenster usw. Sofort stellt sich die Frage, wer für diese Schäden haftet.

Um dies zu beantworten, muss die Urteilsfähigkeit des Kindes geprüft werden: War das Kind in der Lage, die Situation richtig zu erkennen und einzuschätzen? Konnte es abschätzen, dass sein Verhalten allfällige Schadenfolgen nach sich ziehen würde? War es ihm möglich, sich aufgrund dieser Einsicht zu verhalten?

Je komplexer der Sachverhalt und je jünger das Kind desto eher werden diese Fragen verneint werden. Können sie aber mit ja beantwortet werden, ist eine Urteilsfähigkeit vermutlich gegeben und das Kind kann nach Art. 41 OR haftpflichtig werden. Oft wird bei einer Haftpflicht aber aufgrund des Kindesalters eine Reduktion des Schadenersatzbetrags vorgenommen (Art. 43 Abs. 1 OR).

Heisst dies, dass die geschädigte Person auf dem Rest des Schadens sitzen bleibt? Nicht unbedingt. Neben dem Kind kann auch das Familienhaupt zur Verantwortung gezogen werden: Das Familienhaupt haftet für minderjährige Hausgenossen, sofern es nicht nachweist, dass es die Sorgfaltspflicht bei der Beaufsichtigung derselben erfüllt hat (Art. 333 ZGB). Familienhaupt kann dabei irgendeine Person sein, die mit dem Kind in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Darunter fallen auch Institutionen wie Internate, Lehrbetriebe (sofern die minderjährige Lehrperson dort übernachtet) oder Verwandte, welche das Kind regelmässig auch über Nacht betreuen.

Auch urteilsunfähige Kinder können im Übrigen mittels Billigkeitshaftung vom Richter zu einem Schadenersatz verpflichtet werden (Art. 54 OR). Oft spielen bei der Abwägung, ob eine solche Billigkeitshaftung angebracht ist, auch finanzielle Überlegungen eine Rolle: ist beispielsweise das Opfer wegen dem Schaden in eine finanziell schwierige Lage geraten und liegt beim schädigenden urteilsunfähigen Kind eine Abdeckung durch eine Haftpflichtversicherung vor, wäre es stossend, wenn die geschädigte Person die Unfallfolgen vollständig selbst tragen müsste (vgl. BK-Brehm, N 28 zu Art. 54 OR).

Zu beachten ist, dass die Haftung aus Billigkeit eines urteilsunfähigen Kindes nach Art. 54 OR in der Regel nur zur Anwendung kommen kann, wenn das Familienhaupt nicht für den Schaden haftet (vgl. BK-Brehm, N 38 zu Art. 54 OR). Demgegenüber können die Haftung der urteilsfähigen minderjährigen Person nach Art. 41 OR und die Haftung des Familienhaupts i. S. der Anspruchskonkurrenz nebeneinander geltend gemacht werden (Art. 51 OR, vgl. BGE 130 lll 591 E.5.5.1; CR-Wessner, N 22 zu Art. 333 ZGB).

RAin Anna Schneider