
Sammelklagen über die Hintertür?
4. Juli 2025
Öffnet das Urteil KlimaSeniorinnen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 9. April 2024 die Türen für kollektive Schadenersatzklagen in der Schweiz?
Im Schweizer Recht existieren bislang nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten des kollektiven Rechtsschutzes. Die einzige echte Form ist die Verbandsklage nach Artikel 89 ZPO, die jedoch nur auf Unterlassung, Beseitigung oder Feststellung zielt, nicht aber auf Schadenersatz oder Genugtuung. Seit über einem Jahrzehnt wird im Parlament über eine Erweiterung des kollektiven Rechtsschutzes diskutiert.
Nach Einwänden der Wirtschaft wurde der Entwurf zur Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes aus der allgemeinen Revision der Zivilprozessordnung (ZPO) «herausgekippt» und der kollektive Rechtsschutz wird auf die lange Bank geschoben. Während viele europäische Länder und die EU den kollektiven Rechtsschutz ausgebaut haben, hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich massiv hinterher.
Nun hat der Gerichtshof erstmals die Beschwerdelegitimation von Umweltorganisationen im Kontext des Klimawandels und den Klimaschutz als Menschenrecht anerkannt. Muss die Schweiz abstellend darauf den Verbänden Klagemöglichkeiten im Zivilrecht einräumen?
Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats hat den Bundesrat beauftragt, diese Frage zu klären. Das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement EJPD verneint dies in seiner Antwort vom 7. Oktober 2024 und macht geltend, der Entscheid des Gerichtshofes betreffe einzig das Verwaltungsrecht und Verwaltungsverfahren auf nationaler Ebene. Zudem unterscheide sich die Rechtsnatur des (vom Gerichtshof) anerkannten Verbandsbeschwerderechts von der Verbandsklage im Privatrecht. Der Gerichtshof habe dem Verband ein Recht eingeräumt, gerade weil für Einzelpersonen bei so komplexer Materie eine Klagemöglichkeit faktisch oder gar rechtlich entfalle. Bei der kollektiven Rechtsdurchsetzung im Privatrecht würden indessen individuelle Ansprüche gebündelt und sie könnten nach wie vor einzeln vor Gericht geltend gemacht werden. Das EJPD gelangt zum Schluss, dass das Urteil KlimaSeniorinnen von der Schweiz nicht verlange, im Privatrecht eine Verbandsklage vorzusehen oder die bestehende Verbandsklage auszuweiten, weder im Bereiche des Klimaschutzes noch in anderen Bereichen.
Der Gerichtshof beschränkt sich zwar regelmässig auf die Prüfung von Konventionsverletzungen und überlässt es den Nationalstaaten, wie sie diese Verletzungen beheben möchten. Insofern wird der Gerichtshof keine neuen nationalen Rechtsbehelfe, Rechtsmittel oder gar Rechtssätze aufstellen. Dies schliesst indessen nicht aus, dass der Gerichtshof nicht eine neuerliche Konventionsverletzung feststellt, sofern Privaten oder Organisationen keine Rechtsmittel zur Verfügung stehen, um ihre Klimarechte und damit verbundene Schadenersatzansprüche durchzusetzen.
Der Gerichtshof hatte bereits früher festgestellt, dass Art. 2 EMRK und Art. 8 EMRK in Umweltsachen unabhängig davon, ob die Umweltverschmutzung direkt durch den Staat verursacht wurde oder eine Verantwortung des Staates daraus erwachsen ist, dass er es unterlassen hat, die Privatindustrie angemessen zu regulieren, zur Anwendung kommen kann (s. Rn 435 des Urteils mit Hinweis auf Hatton u.a. gegen das Vereinigte Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 36022/97, Rn. 98, ECHR 2003-VIII).
Die Konvention sieht das Institut der actio popularis (Popularklage) nicht vor. Der Gerichtshof legt aber den Begriff des Opfers gemäss Artikel 34 der Konvention autonom und unabhängig von innerstaatlichen Regelungen über die Klagelegitimation fest (Rn 462) und zählt neben den durch ein Gesetz in ihren Rechten verletzte Personen auch die bloss potenziell betroffenen Personen dazu (Rn 469 ff.). Er anerkennt, dass das kollektive Handeln durch Vereinigungen und andere Interessengruppen eines der wenigen Mittel ist, mit dem die Stimme derjenigen, die in Bezug auf ihre Repräsentation deutlich benachteiligt sind, gehört werden (Rn 489).
Der Gerichtshof hält es daher für angebracht, in diesem spezifischen Kontext anzuerkennen, dass es wichtig ist, Vereinigungen die Beschreitung des Rechtswegs zu ermöglichen, um den Schutz der Menschenrechte von Personen einzufordern, die von den nachteiligen Folgen des Klimawandels betroffen sind oder betroffen sein könnten, anstatt nur auf Verfahren zu vertrauen, die von Einzelpersonen im eigenen Namen angestrengt werden (Rn 499). Unterliegen Vereinigungen Einschränkungen hinsichtlich ihrer Klagebefugnis vor den innerstaatlichen Gerichten, kann der Gerichtshof im Interesse einer geordneten Rechtspflege auch berücksichtigen, ob und in welchem Masse ihre Mitglieder oder sonstige Betroffene in demselben oder einem damit zusammenhängenden Verfahren Zugang zu einem Gericht hatten (Rn 503).
Wenn Art. 2 EMRK(Recht auf Leben) bereits tangiert ist, wenn staatliches Handeln (oder Nichthandeln) im Zusammenhang mit dem Klimawandel eine tatsächliche und unmittelbare Gefahr für das Leben begründet (Rn 513), dann gilt dies umso mehr, wenn staatliches Handeln oder Unterlassen eine gesundheitliche Beeinträchtigung bewirkte oder begünstigte. Gleichermassen steht jeder Person das Recht zu, durch die staatlichen Behörden wirksam vor schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen und ihre Lebensqualität gemäss Art. 8 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben) geschützt zu werden.
Erkrankungen als Folge fehlerhaften staatlichen Verhaltens begründen damit Schadenersatzansprüche. Wird eine Verletzung von Art. 2 EMRK oder Art. 8 EMRK durch staatliche Organe vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, ist der betroffene Staat nach Art. 41 EMRK verpflichtet, der geschädigten Partei eine angemessene Entschädigung zu zahlen, um den durch die Menschenrechtsverletzung entstandenen Schaden auszugleichen. Die Entschädigung umfasst sowohl materielle als auch immaterielle Schäden (z.B. Schmerzensgeld).
Zusammenfassend kann demnach festgestellt werden, dass die Europäische Menschenrechtskonvention sowohl Organisationen als auch betroffene Privatpersonen im Falle von staatlichen Klimaverstössen und -unterlassungen ermächtigen, ihre Rechte vor den innerstaatlichen Gerichten geltend zu machen. Treten die Behörden auf solche Individual- oder Popularbeschwerden nicht ein, so droht der Schweiz, vom Gerichtshof verurteilt und zu Schadenersatz verpflichtet zu werden.
Der kollektive Rechtsschutz wird damit nicht generell aus der Taufe gehoben und er ist gemeinsam kämpfenden Konsumenten oder Organisationen gegen Produzenten und Konzerne weiterhin verwehrt; in speziellen Konstellationen, wo Menschenrechtsverletzungen durch staatliches Handeln oder Unterlassen begangen werden, bleibt der Gang zu den Gerichten indessen einen Spalt weit offen.