Krankentaggeld: Auch ein Stellenwechsel im angestammten Bereich berechtigt zu einer angemessenen Übergangsfrist
12. Juni 2024
Möchte die Krankentaggeldversicherung ihre Leistungen nach einer länger dauernden Arbeitsunfähigkeit einstellen, da die versicherte Person aus medizinischer Sicht ihre Arbeitsfähigkeit wiedererlangt hat, muss diese in der Regel dazu aufgefordert werden, sich um eine neue Stelle zu bemühen. Gleichzeitig muss der versicherten Person eine angemessene Übergangsfrist eingeräumt werden, während welcher sie sich den neuen Gegebenheiten anpassen und sich der Stellensuche widmen kann. In der Praxis kommt es indessen häufig vor, dass Krankentaggeldversicherungen ihre Leistungen sehr kurzfristig (z.T. innert weniger Tage) einstellen.
Im Zusammenhang mit der Übergangsfrist unterscheiden die Krankentaggeldversicherer oftmals (und – wie zu zeigen sein wird – zu Unrecht) danach, ob die versicherte Person ihre Arbeitsfähigkeit in ihrem bisherigen Beruf wiedererlangt hat oder ob die Wiederaufnahme der Arbeitstätigkeit einen Berufswechsel erfordert. Insbesondere wenn kein gesundheitsbedingter Berufswechsel erforderlich ist, sondern «bloss» ein Stellenwechsel im angestammten Bereich, gewähren Krankentaggeldversicherungen regelmässig keine oder eine nur sehr kurze Übergangsfrist.
schadenanwaelte vertreten aktuell in mehreren Fällen Personen, die sich in dieser Situation befinden, denn diese Haltung ist falsch: Das Bundesgericht hat bereits mehrfach in Erinnerung gerufen, dass auch bei einer rein arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit eine angemessene Übergangsfrist zu gewähren sei, da diese nicht einzig der Umschulung diene, sondern vielmehr generell der Anpassung an die veränderten Verhältnisse und Stellensuche (Urteile des BGer 4A_111/2010 v. 12.07.2010, E. 3.2; 4A_73/2019 v. 29.07.2019, E. 3.3.3; 9C_177/2022 v. 18.08.2022, E. 6.3).
In der Rechtsprechung hat sich eine Übergangsfrist von drei bis fünf Monaten ab Aufforderung zum Berufswechsel bzw. zur Stellensuche als «angemessen» etabliert (vgl. vorzitierte Urteile des BGer). Bei der Festlegung der Übergangsfrist ist insbesondere auch dem Umstand, dass krankheitsbedingte Einschränkungen die versicherte Person auch bei der Stellensuche beeinträchtigen, entsprechend Rechnung zu tragen. Wird eine stufenweise Steigerung der Arbeitsfähigkeit verlangt, ist sodann zu berücksichtigen, dass es für die versicherte Person nahezu unmöglich sein dürfte, eine Anstellung zu finden, bei welcher sie ihr Arbeitspensum nach dem vorgegebenen «Schema» der Krankentaggeldversicherung steigern kann (vgl. hierzu auch Urteil des BGer 4A_111/2010 v. 12.07.2010, E. 3.2). In einer Gesamtschau drängt es sich daher auf, den Beginn der Übergangsfrist auf den Zeitpunkt der Wiedererlangung der vollen Arbeitsfähigkeit zu legen. Schliesslich gilt im Privatversicherungsrecht auch der Grundsatz, dass man Personen nicht auf realitätsfremde Massnahmen verweisen darf (Urteil des BGer 4A_304/2012 v. 14.11.2012, E. 2.4 f.).