
Das Gericht hält die Waage – und die Partei den Finger drauf?
8. Oktober 2025
«Offenheit des Verfahrens und Möglichkeit eines gerechten Urteils werden aber gefährdet, wenn ausserhalb des Prozesses liegende Umstände in sachwidriger Weise auf das Verfahren einwirken; […] Der amtende Richter soll ein ‹echter Mittler› sein, und der ‹Rechtsuchende soll sich beim Richter im Recht geborgen fühlen›» (BGE 114 Ia 50 E. 3c). So umschreibt das Bundesgericht die Tragweite des durch die Bundesverfassung und EMRK garantierten Anspruchs auf einen unabhängigen Richter oder eine unabhängige Richterin. Die richterliche Unabhängigkeit gewährleistet aber nicht nur die Legitimation und Akzeptanz des Urteils im Einzelfall. Vielmehr sichert sie das Vertrauen der Rechtssuchenden in das gerichtliche Verfahren an sich und legitimiert darüber hinaus das Gericht als verbindlichen Entscheidungsträger im demokratischen Rechtsstaat.
Zwölf Richterinnen und Richter haben mit der NZZ unlängst über den Einfluss von Politik in ihrem beruflichen Alltag gesprochen (NZZ am Sonntag, 31. August 2025) Hintergrund: Wer in der Schweiz auf dem Richterstuhl Platz nehmen will, kommt ohne Parteimitgliedschaft meist bloss in Griffnähe der Stuhllehne. So werden die offenen Richterstellen teils von den Parlamenten, teils direkt vom Volk, meistens aber in informellen Parteigremien besetzt – proportional zur Grösse der jeweiligen Partei. Weiter ist es üblich, dass die gewählten Richterinnen und Richter einen Teil ihres Salärs an ihre Partei abgeben, wobei die linken Parteien mutmasslich mit dem grösseren Schöpflöffel anklopfen würden. Am Ende der – im internationalen Vergleich tendenziell eher kurzen – Amtsperiode steht dann die Wiederwahl an – wo wiederum die Unterstützung der jeweiligen Partei vonnöten ist.
Die engmaschige Verflechtung von Recht und Politik ist sozusagen eine Schweizer Eigenart und keineswegs unumstritten. So wurde vor knapp vier Jahren die «Justiz-Initiative» lanciert, jedoch mit einer deutlichen Mehrheit abgelehnt . Damit ist die Thematik aber keineswegs vom Tisch. Einige Richterinnen und Richter berichten der NZZ, dass sie sich durch das System in ihrer Tätigkeit mitunter eingeschränkt fühlen, da sie sich Gedanken über die parteiinternen Reaktionen auf ein Urteil machen oder ihre Karrierechancen gefährdet sehen.
Hat die Schweiz also doch ein «System-Problem»? Entwarnung liefert die NZZ zumindest teilweise gleich selbst. So empfinden nicht alle der befragten Richterinnen und Richter gleich, vielmehr fühlen sich einige durch ihre Partei überhaupt nicht beeinflusst. Sämtliche Richterinnen und Richter unter einen Generalverdacht zu stellen, wäre ohnehin nicht angebracht: Man darf darauf vertrauen, dass die Urteile in diesem Land mit einem hohen Mass an Professionalität und Objektivität ausgearbeitet werden. Es ist auch daran zu erinnern, dass das Schweizer System zwar eigenartig wirken mag, sich aber seit geraumer Zeit bewährt. So wird von den Befürworterinnen und Befürwortern vorgebracht, dass dadurch eine ausgewogene Vertretung der politischen Kräfte innerhalb der Gerichte und somit eine grössere Akzeptanz der Gerichtsentscheide bei der Bevölkerung entsteht.
Dennoch kann mit Blick auf das erneute Aufkochen dieses latent brodelnden Themas nicht von der Hand gewiesen werden, dass der Status quo einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Die einzelnen Aussagen lassen aufhorchen: Die Karrierechancen einer jungen Richterin oder eines jungen Richters dürfen nicht davon abhängen, wie stramm sie oder er der Parteilinie folgt. Massgebend muss die Qualität der gefällten Urteile sein. Weiter kann man sich fragen, ob die Schweiz verschärfte Vorschriften bei der Parteifinanzierung braucht, um den hohen Mandatsabgaben entgegenzuwirken. Dass die linken Parteien so stark auf diese Beiträge angewiesen sind, um ihre politische Arbeit verrichten und mit der Mitte und dem bürgerlichen Spektrum einigermassen mithalten zu können, stellt einen Missstand dar, welcher sich indirekt auf die richterliche Unabhängigkeit auszuwirken droht (https://www.srf.ch/news/schweiz/politikfinanzierung-2024-parteifinanzen-sp-schweiz-ist-wieder-einnahme-siegerin).
Man muss also mit mahnendem Finger an die Worte des Bundesgerichts erinnern: «Der amtende Richter soll ein echter Mittler sein». Zugegebenermassen dürfte die Gefahr einer politischen Einflussnahme nur in wirklich brisanten Fällen mit hoher gesellschaftlicher Tragweite drohen. Doch genau dann ist die richterliche Unabhängigkeit umso resoluter zu wahren. Auch wir bei schadenanwaelte sind hierauf angewiesen, denn unsere alltägliche Arbeit ist vor politischer Brisanz nicht gefeit. So ächzt das Sozialversicherungsrecht seit Jahren unter dem politisch verordneten Spardruck. Angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage und der ausgerufenen verschärften Sparmaxime ist hier keine Entspannung in Sicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dieses Rechtsgebiet weiterhin hochpolitisch angehaucht bleibt. Davon wird auch das Privatversicherungsrecht nicht verschont, welches zuweilen versucht, sich im für die Versichertengemeinschaft zeitweise unwirtlichen Kielwasser des Sozialversicherungsrechts treiben zu lassen. Und wenn Schadenersatz aus Umweltschädigungen geltend gemacht wird, verkommt das Haftpflichtrecht schnell zum Politikum mit enormer medialer Strahlkraft.
Die richterliche Unabhängigkeit kann und muss hier als Korrektiv gegen real vorhandene ungleiche Machtverhältnisse wirken und den Rechtsschutzsuchenden zu ihrem Rechtsanspruch verhelfen. Würde diese Kontrollinstanz durch politischen Druck, der auch passiv ausgeübt werden kann, ausgehebelt, gäbe sich der demokratische Rechtsstaat letztlich selbst auf. Es sind somit vorab die Parteien – unter anderem auch durch die wählende Bevölkerung – in die Pflicht zu nehmen, sich in der gebotenen Zurückhaltung zu üben und die Gewaltenteilung zu respektieren.