Wenn eine Begutachtung krank macht – Zur Zumutbarkeit von medizinischen Untersuchungen durch die IV

11. April 2025

Unser Sozialversicherungssystem basiert auf dem Prinzip der Solidarität: Wer gesund ist, trägt mit seinen Beiträgen dazu bei, dass Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen abgesichert sind. Um eine Rente der Invalidenversicherung (IV) zu erhalten, muss allerdings nachgewiesen werden, dass eine erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung vorliegt.

IV-Stellen und Gerichte verlassen sich dabei häufig nicht allein auf die Einschätzungen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Stattdessen werden externe Gutachter beauftragt, die klären sollen, ob und in welchem Umfang noch eine Arbeitsfähigkeit besteht. Diese Begutachtungen erfolgen meist in von der IV bestimmten medizinischen Zentren (sogenannte MEDAS). Die Versicherten haben dabei kaum Mitspracherechte bezüglich Ort, Zeitpunkt oder der Auswahl der Gutachtenden.

Auch wenn die Teilnahme an der Begutachtung formal freiwillig ist, ist der Druck auf die Betroffenen gross: Wer sich der Untersuchung verweigert, muss mit einer Ablehnung seines Gesuchs rechnen. Das Gesetz verlangt jedoch ausdrücklich, dass solche Abklärungen zumutbar sein müssen (Art. 43 Abs. 2 ATSG). Es genügt nicht, dass die Untersuchung organisatorisch durchführbar ist – sie muss auch unter gesundheitlichen Gesichtspunkten subjektiv zumutbar sein. Gerade bei schweren chronischen Erkrankungen ist dies nicht immer gegeben.

Ein Fall aus unserer eigenen Beratungspraxis verdeutlicht, wie problematisch solche Situationen sein können: Unser Klient leidet an einer schweren Form von ME/CFS – einer Erkrankung, die mit starker Erschöpfung, Reizempfindlichkeit und Belastungsintoleranz einhergeht. Bereits eine frühere IV-Begutachtung hatte bei ihm zu einer massiven gesundheitlichen Verschlechterung geführt, mit der Folge, dass er mehrere Monate in einem Pflegeheim verbringen musste. Nun wurde ihm erneut eine Begutachtung auferlegt – mit mehreren Terminen in einer medizinischen Einrichtung in einer anderen Stadt. Allein die Anreise stellt für ihn eine erhebliche Belastung dar. Seine behandelnde Ärztin warnt ausdrücklich vor einem erneuten Zusammenbruch mit schwerwiegenden, möglicherweise dauerhaften Folgen (vgl. Tages-Anzeiger).

Besonders zu betonen ist: Es geht nicht um vorübergehende Beschwerden, sondern um die reale Gefahr einer dauerhaften gesundheitlichen Verschlechterung. Im konkreten Fall droht unserem Klienten bei erneuter Überlastung durch eine Begutachtung eine Verschlechterung seines Zustands bis hin zur vollständigen Pflegebedürftigkeit, die eine dauerhafte Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung erforderlich machen könnte. Auch ohne Begutachtung bedarf unser Klient der dauernden Pflege, die aber jetzt noch im häuslichen Umfeld möglich ist.

Dennoch halten einige IV-Stellen an der Durchführung solcher Untersuchungen fest – mit der Begründung, es handle sich um notwendige Abklärungen. Dabei wird jedoch verkannt, dass eine Begutachtung, die eine irreversible Verschlechterung der Gesundheit zur Folge haben kann, nicht nur unzumutbar, sondern auch unverhältnismässig ist. Der Staat darf nicht in Kauf nehmen, dass Versicherte durch ein Verfahren bleibenden Schaden nehmen.

In solchen Fällen müssen schonendere Alternativen gewählt werden: etwa eine Begutachtung im häuslichen Umfeld, eine Einschätzung durch den regionalen ärztlichen Dienst oder eine sorgfältige Auswertung der vorhandenen medizinischen Unterlagen. Es ist sowohl rechtlich als auch ethisch geboten, dass die Gesundheit der betroffenen Person stets im Vordergrund steht.

Aus unserer Sicht ist zudem klar: Wenn eine medizinische Begutachtung objektiv unzumutbar ist, kann nicht gleichzeitig von einer noch vorhandenen Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden. In solchen Fällen ist der Sachverhalt ausreichend abgeklärt – und eine Rente ist zuzusprechen, auch ohne weitere medizinische Untersuchung.

RA Sebastian Lorentz