Suchterkrankungen sind IV-relevant; oder doch nicht?

21. September 2022

Abhängigkeitserkrankungen sind in der Invalidenversicherung wie alle anderen psychischen Erkrankungen zu behandeln und dürfen nicht mehr von Vornherein unberücksichtigt bleiben. Dieser Grundsatz sollte nach einem Leitentscheid des Bundesgerichts mittlerweile klar sein. Wir stellen jedoch fest, dass die Praxis der Rechtsprechung noch hinterherhinkt.

Im Juli 2019 hat das Bundesgericht seine langjährige Rechtsprechung zu den Abhängigkeitserkrankungen in der Invalidenversicherung aufgegeben (BGE 145 V 215 vom 11.7.2019). Neu müssen Abhängigkeitserkrankungen wie alle anderen psychischen Erkrankungen behandelt und nach Massgabe von BGE 141 V 281 im Rahmen eines strukturierten Beweisverfahrens abgeklärt werden. Die Invalidenversicherung muss Leistungsansprüche daher seit der Änderung der Rechtsprechung unter Berücksichtigung der Abhängigkeitserkrankungen prüfen. Vor BGE 145 V 215 war eine Abhängigkeitserkrankung für die Invalidenversicherung nur dann von Relevanz, wenn sie entweder selber die Folge einer anderen Krankheit war oder zu einer schweren Folgeerkrankung führte. In der Praxis wurde dies nur selten anerkannt. Da der Gesundheitszustand einer versicherten Person daher in der Regel ohne Berücksichtigung der Abhängigkeitserkrankung zu untersuchen war, wurden häufig Auflagen zur Abstinenz gemacht mit dem Hinweis, dass das Leistungsgesuch erst bei vollständiger Abstinenz geprüft werden könne. Konnte die versicherte Person die Auflage nicht erfüllen, wurde die Leistungsprüfung eingestellt oder der Anspruch abgewiesen. Dieses Vorgehen ist nach der neu geltenden Rechtsprechung nicht mehr zulässig. Aber hält man sich seitens der Invalidenversicherung auch an die neuen Vorgaben? Leider nur teilweise, wie wir immer wieder feststellen müssen.

Exemplarisch dazu ist ein kürzlich von schadenanwaelte vor dem Sozialversicherungsgericht Zürich erstrittenes Urteil. Unser Mandant meldete sich im November 2019 bei der Invalidenversicherung an, da er aufgrund einer Abhängigkeitserkrankung nicht mehr arbeiten konnte, was von der zuständigen Invalidenversicherungsstelle insoweit anerkannt wurde, als man eine berufliche Eingliederung für nicht sinnvoll erklärte. Danach forderte die Invalidenversicherung von unserem Mandanten jedoch die Durchführung einer Entzugsbehandlung von mindestens sechs Monaten mit regelmässigen Abstinenzkontrollen, da davon ausgegangen werden müsse, dass sich der Gesundheitszustand nach erfolgtem Entzug verbessern und er wieder arbeitsfähig würde. Nachdem der Entzug scheiterte, verneinte die Invalidenversicherung einen Rentenanspruch.

Das Sozialversicherungsgericht rügte das Vorgehen des Invalidenversicherung mit aller Klarheit. Die Vorgaben der Rechtsprechung in BGE 145 V 215 seien ignoriert worden. Der Leistungsanspruch unseres Mandanten hätte mit Einbezug der Folgen seiner Abhängigkeitserkrankung geprüft werden müssen. Auch wenn der Gesundheitszustand noch behandlungs- und damit allenfalls auch verbesserungsfähig sei, dürfe dies nicht zum Vornherein zur Abweisung des Leistungsanspruches führen. Eine mögliche Verbesserung des Gesundheitszustandes können später mittels Revision überprüft werden, dürfe aber nicht zur grundsätzlichen Verweigerung von Leistungen führen. Die Invalidenversicherung muss den Leistungsanspruch nun korrekt abklären.

Da die Praxis im Umgang mit der geänderten Rechtsprechung noch immer sehr uneinheitlich ist und die neuen Vorgaben von BGE 145 V 215 nicht immer eingehalten werden, empfehlen wir bei negativen Entscheiden rechtliche Beratung zu suchen.

Urteil des Sozialversicherungsgerichts Zürich vom 22. August 2022