Schulterverletzungen: Orthopäden intervenieren beim Bundesgericht

2. November 2020

Rotatorenmanschettenrupturen gehören zu den häufigsten Schulterverletzungen. Solche Verletzungen führen oft zu versicherungsrechtlichen Streitigkeiten, weil sich die Unfallversicherungen auf den Standpunkt stellen, nicht das Trauma sei ursächlich, sondern ein vorbestehendes degeneratives Leiden. Die Schweizerische Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (SGOT) hat in einem Brief an das Bundesgericht vom 1. Oktober 2020 die versicherungsmedizinische Praxis bei Rotatorenmanschettenrupturen kritisiert. 

Gemäss der SGOT berufen sich die Unfallversicherungen im wesentlichen auf immer dieselben Literaturstellen, welche aus vier Review-Artikeln stammen, die rund 20 Jahre alt sind. Es handle sich bei diesen vier Artikeln um reine Meinungsäusserungen, die nie wissenschaftlich verifiziert worden seien. Gemäss diesen «Übersichtsartikeln», die in den deutschen Zeitschriften «der Unfallchirurg», der «Orthopäde» und dem «Zentralblatt für Chirurgie» erschienen sind, könne ein direktes Anpralltrauma nicht zu einer Schädigung der Rotatorenmanschette führen, da diese durch das darüber liegende Schulterdach und den Deltoideusmuskel vor Gewalteinwirkung geschützt sei.

Diese Auffassung wurde allerdings in keinem dieser Artikel durch eine biomechanische oder klinische Studie untermauert, so die SGOT. «Es handelt sich dementsprechend um eine reine Hypothese oder ältere Expertenmeinung, die bis zum heutigen Zeitpunkt nie wissenschaftlich verifiziert wurde. Sie widerspricht aber generell der heutigen klinischen Erfahrung der Schulterexperten…». So habe ein Alter von unter 60 Jahren (!) eine schützende Wirkung für die Entstehung von degenerativen Rotatorenmanschettenrupturen. Die SGOT kommt zusammenfassend «zum Ergebnis, dass ein direktes Schultertrauma durchaus überwiegend wahrscheinlicher und sogar einer der häufigsten Mechanismen einer akuten/traumatischen Rotatorenmanschettenruptur sein kann.» Der Brief schliesst mit dem Satz: «Die aktuell von den Versicherern gebrauchte tendenziöse veraltete Literatur ohne wissenschaftliche Grundlage muss heutzutage als obsolet betrachtet werden.»

Sollte dies zutreffen, so wurden in den vergangen Jahrzehnten unter Umständen hunderte oder tausende Versicherte mit einer Schulterverletzung um ihre Leistungen gebracht. Zu hoffen ist, dass das Bundesgericht seine Praxis zu den Rotatorenmanschettenrupturen aufgrund der Intervention der SGOT und diesen neuen Erkenntnissen bald ändern wird.

Schreiben der SGOT vom 1. Oktober 2020