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Revision der ZPO: welche Bestimmungen für Geschädigte und deren Vertreter relevant sein könnten
17. Dezember 2024
Am 1. Januar 2025 tritt die revidierte Zivilprozessordnung (ZPO) in Kraft. Diese hat diverse Änderungen erfahren. Der folgende Artikel geht auf einige ausgewählte Punkte ein und zeigt dabei auf, welche Bestimmungen für Geschädigte und deren Vertreter in Personenschadenprozessen von Interesse sein werden.
1. Unbedingtes Replikrecht (Art. 53 Abs. 3 nZPO)
Gemäss Art. 53 Abs. 3 nZPO darf zu sämtlichen Eingaben der Gegenpartei Stellung genommen werden. Das Gericht setzt dazu eine Frist von mindestens zehn Tagen an.
Damit wird die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum jederzeitigen Replikrecht kodifiziert und dahingehend ergänzt bzw. abgeändert, dass nicht die Parteien von sich aus eine Eingabe verfassen oder eine Fristansetzung beantragen müssen, sondern das Gericht den Parteien mit Zustellung der Eingabe eine Frist ansetzen muss. Diese Frist ist im Rahmen von Art. 144 ZPO erstreckbar.
2. Wirkungen einer Eingabe bei fehlender Zuständigkeit oder falscher Verfahrensart (Art. 63 Abs. 1 nZPO und Art. 143 Abs. 1bis nZPO)
Eingaben, die innert der Frist irrtümlich bei einem unzuständigen schweizerischen Gericht eingereicht werden, gelten als rechtzeitig eingereicht. Ist ein anderes Gericht in der Schweiz zuständig, leitet das unzuständige Gericht die Eingabe neu von Amtes wegen weiter (Art. 143 Abs. 1bis nZPO). Für den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit gilt dabei das Datum der ersten Einreichung (Art. 63 Abs. 1 nZPO).
3. Kostenvorschuss (Art. 98 nZPO)
Der Kostenvorschuss, den das Gericht von der klagenden Partei verlangen kann, darf neu höchstens die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten betragen. Dies gilt nicht für alle Verfahren. So kann das Gericht etwa für Rechtsmittelverfahren einen vollen Kostenvorschuss verlangen (vgl. Art. 98 nZPO).
Dies kann zu Beginn des Prozesses eine gewisse Erleichterung sein. Das Problem der hohen Prozesskosten (Gerichtsgebühren, Beweisführungskosten, Parteientschädigungen bei Unterliegen) für Parteien, die keine Rechtsschutzversicherung haben oder die nicht in den Genuss der unentgeltlichen Rechtspflege kommen, ist damit jedoch nicht gelöst. Die Kostenhürde bleibt deshalb grundsätzlich bestehen, was klagende Parteien in bestimmten Situationen in eine existenzielle Notlage führen kann. Dies gilt etwa für ein Unfallopfer, das seine Schadenersatzansprüche (bspw. Einkommensausfall) aufgrund der potentiell ruinösen Prozesskosten (insbesondere bei höheren Streitwerten) nicht durchsetzen kann. In gewissen Konstellationen können die ebenfalls revidierten Art. 94 Abs. 3 nZPO (Kosten bei Erhebung einer Teilklage) und Art. 118 Abs 2 nZPO (vorsorgliche Beweisführung) zu einer Erleichterung für die klagende Partei führen (s. dazu die nächsten zwei Abschnitte).
4. Massgebender Streitwert bei einer Teilklage und Zulässigkeit der negativen Feststellungswiderklage (Art. 94 Abs. 3 nZPO und Art. 224 Abs. 1bis nZPO)
Zwecks Senkung des Kostenrisikos haben sich die klagenden Parteien immer wieder des Instruments der Teilklage (Art. 86 ZPO) bedient. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat diesem Kostenvorteil jedoch einen Riegel geschoben, indem es die negative Feststellungswiderklage als Reaktion auf eine Teilklage in praktisch sämtlichen Konstellationen zuliess (vgl. etwa BGE 147 III 172; BGer 4A_395/2021 vom 7. Oktober 2021 E. 3.2). Dies führte bei Erhebung einer Widerklage dazu, dass die Kosten anhand des gesamten Verfahrensstreitwerts bemessen wurden, was für die klagende Partei wiederum zu nicht tragbaren finanziellen Konsequenzen führen konnte. Gemäss der revidierten ZPO (Art. 224 Abs. 1bis lit. b nZPO) wird die Praxis, dass die beklagte Partei als Reaktion auf eine Teilklage eine negative Feststellungswiderklage erheben kann, nun gesetzlich verankert.
Als Korrektiv wurde neu jedoch Art. 94 ZPO um einen Abs. 3 ergänzt, der vorsieht, dass die Prozesskosten ausschliesslich auf der Grundlage des Streitwerts der Hauptklage berechnet werden, wenn die Hauptklage eine Teilklage ist. Dies erscheint auf den ersten Blick eine gute Änderung zu sein, da die klagende Partei ihr Kostenrisiko bei Erhebung einer Teilklage ungeachtet der Reaktion der Gegenseite abschätzen kann. Gleichzeitig sind aber insbesondere folgende zwei Punkte zu beachten:
Erstens ist nicht jeder Streit für eine Teilklage geeignet. Teilklagen sind insbesondere dort sinnvoll, wo grundlegende Aspekte strittig sind, im Personenschadenrecht etwa die grundsätzliche Haftung oder die Kausalität zwischen einem Unfall und den in der Folge aufgetretenen Beschwerden. Wird jedoch um das Quantitativ gestritten, beispielsweise die Höhe des Lohnausfalls, ist eine Teilklage zur Kostensenkung nur von beschränktem Nutzen, da unter Umständen ein hoher Beitrag eingeklagt werden muss, damit die strittigen Fragen im Prozess auch geklärt werden können.
Zweitens gilt der Kostenvorteil auch für die Gegenpartei. Auch für sie bleiben die Kosten (erheblich) tiefer, wenn sie eine negative Feststellungswiderklage erhebt. Dies kann ein Anreiz sein, mehr solcher Widerklagen zu erheben. Die klagende Partei wird sich dann unter Umständen im Verfahren zu vielen weiteren Themen äussern und diesbezüglich Beweis führen müssen.
5. Unentgeltliche Rechtspflege auch für die vorsorgliche Beweisführung (Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz nZPO)
Das Bundesgericht verweigerte den Gesuchstellern in einem Verfahren betreffend vorsorgliche Beweisführung (Art. 158 ZPO) die unentgeltliche Rechtspflege (vgl. BGE 140 III 12). Die revidierte ZPO sieht neu vor, dass ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege auch in entsprechenden Verfahren besteht. Im Personenschadenrecht werden vorsorgliche Beweisführungsverfahren insbesondere im Zusammenhang mit der Abklärung des medizinischen Sachverhalts (namentlich Einholung von Gutachten) zwecks Beurteilung der diesbezüglichen Prozesschancen angestrengt.
6. Verhandlungen und Einvernahmen per Videokonferenz (Art. 141a, 141b, 170a, Art. 187 und Art. 193 nZPO)
Neu kann das Gericht, auf Antrag einer Partei oder von Amtes wegen, mündliche Prozesshandlungen auch per Videokonferenz durchführen. Das Gleiche gilt für die Einvernahme von Zeugen und Parteien sowie bei der mündlichen Erstattung eines Gerichtsgutachtens.
Es wird sich zeigen, inwieweit die Gerichte von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden. Insbesondere bei Streitigkeiten mit internationalem Bezug dürfte dies zu einer Beschleunigung des Verfahrens führen.
7. Parteigutachten sind neu Urkunden (Art. 177 nZPO)
Parteigutachten – also Gutachten, die von einer Partei selbst in Auftrag gegeben wurden – hatten gemäss der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGE 141 III 433) keine Beweisqualität; sie galten als blosse Parteibehauptungen. Neu werden Parteigutachten als Urkunden qualifiziert, welche die Gerichte, zusammen mit den übrigen Beweismitteln, frei zu würdigen haben (vgl. Art. 157 ZPO).
Welchen Einfluss dies auf die Würdigung der medizinischen Berichte und insbesondere der von den Versicherungen bei ihren Vertrauensärzten in Auftrag gegebenen Gutachten haben wird, gilt es abzuwarten. Spannend wird insbesondere sein, inwieweit sich die Zivilgerichte (vermehrt) bereits gestützt auf die im Recht liegenden medizinischen Berichte und insbesondere von den Prozessparteien eingeholten Gutachten eine abschliessende Meinung zum medizinischen Sachverhalt bilden werden (wie dies in Sozialversicherungsfahren bzw. vor den Sozialversicherungsgerichten bereits jetzt meist der Fall ist) oder ob sie, wenn die medizinischen Unterlagen zu gegenteiligen Schlussfolgerungen kommen, (weiterhin) Gerichtsgutachten zur abschliessenden Klärung der Sachlage in Auftrag geben werden. Die klägerischen Anwälte dürften in jedem Fall gut beraten sein, ein von der Versicherung in Auftrag gegebenes Gutachten im Prozess nicht nur (unter Verweis auf andere [weniger umfangreiche]) medizinische Berichte (der behandelnden Ärzte) substantiiert zu bestreiten, sondern eigens fundierte medizinische Berichte oder (Kurz-)Gutachten einzuholen, um im «Beweiswürdigungspoker» nicht mit schlechten Karten zu beginnen.
8. Noven (Art. 229 nZPO)
Hat weder ein zweiter Schriftenwechsel noch eine Instruktionsverhandlung stattgefunden, können neue Tatsachen und Beweismittel in der Hauptverhandlung im ersten Parteivortrag unbeschränkt vorgebracht werden. In den anderen Fällen können neue Tatsachen und Beweismittel innerhalb einer vom Gericht festgelegten Frist oder, bei Fehlen einer solchen Frist, spätestens bis zum ersten Parteivortrag in der Hauptverhandlung vorgebracht werden.
Während früher Tatsachen nach dem Fall der Novenschranke unverzüglich in den Prozess eingebracht werden mussten, sind sie neu spätestens bis zum ersten Parteivortrag in der Hauptverhandlung vorzubringen.
9. Übergangsregelung
Art. 407f nZPO nennt die Bestimmungen, die auch für Verfahren gelten, die bei Inkrafttreten der Änderung vom 17. März 2023 rechtshängig sind. Gemäss der Übergangsregelung handelt es sich um zahlreiche Bestimmungen.
So gelten u.a. Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz nZPO, der besagt, dass auch in Verfahren zur vorsorglichen Beweisführung die unentgeltliche Rechtspflege beantragt werden kann. Inwieweit die unentgeltliche Rechtspflege aufgrund der Übergangsbestimmung bei (bereits länger) hängigen Verfahren im Lichte von Art. 119 Abs. 4 ZPO (die unentgeltliche Rechtspflege kann grundsätzlich nur ab dem Zeitpunkt der Beantragung gewährt werden) auch rückwirkend gewährt werden wird, werden die Gerichte zu entscheiden haben.
Interessant ist schliesslich, dass auch Art. 177 nZPO (Parteigutachten sind neu Urkunden) in hängigen Verfahren Anwendung finden soll. Dies kann in Fällen zu Problemen führen, in welchen Parteien im Rahmen des Schriftenwechsels ein Parteigutachten der Gegenpartei nur substantiiert bestritten haben und selber keine (zusätzlichen) Beweismittel (etwa eigene Parteigutachten) zum entsprechenden Themenkreis offeriert haben. Wie die Gerichte im Rahmen der Beweiswürdigung mit dieser Situation umgehen, wird sich zeigen. Klar dürfte sein, dass der Partei, die aufgrund der bisherigen Praxis ihre prozessualen (Bestreitungs-)Lasten erfüllt hat, im Verfahren der Beweiswürdigung kein Nachteil dahingehend erwachsen darf, dass Gerichte den Beweis aufgrund des von der Gegenpartei ins Recht gelegten Parteigutachtens als erbracht erachten darf.
10. Fazit
Die Revision der ZPO bringt gewisse Erleichterungen für Kläger in Personenschadenprozessen, insbesondere im Zusammenhang mit den Prozesskosten. Es verbleiben aber erhebliche Stolpersteine, die, aus Sicht des Autors, ihren Hauptgrund an den bisweilen sehr strengen Substantiierungs- und Beweisanforderungen der Gerichte haben. «Revisionsbedarf» bestünde insbesondere diesbezüglich. Der Autor hat sich dazu letztes Jahr in einem Aufsatz im HAVE geäussert und verschiedene Lösungsmöglichkeiten für die entsprechenden Probleme vorgestellt. Der Aufsatz kann bei Interesse hier gelesen werden: