Leidensbedingte
Abzüge: Auf das Zwischenhoch folgt die Ernüchterung

1. Oktober 2024

Wie das BSV die lang ersehnte faire Lösung im Zusammenhang mit den Kürzungsmöglichkeiten von Tabellenlöhnen wieder zunichte machte. Was passiert ist, lesen Sie im folgenden Beitrag.

Im Invaliditätsfall werden zur Berechnung des Invaliditätsgrades häufig statistische Werte herbeigezogen; dies vor allem in denjenigen Fällen, in denen eine invalide Person keine Arbeitsstelle findet, medizinisch-theoretisch jedoch arbeiten könnte. Da Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Einschränkungen gegenüber Gesunden nachgewiesenermassen tiefere Erwerbseinkommen erzielen, hat das Bundesgericht in den 90er-Jahren eine Praxis entwickelt (konsolidiert mit BGE 126 V 75), wonach die statistischen Tabellenlöhne herabgesetzt werden können, wenn folgende Faktoren die Erwerbsmöglichkeiten einer invaliden Person negativ beeinflussen: Leidensbedingte Einschränkung, Beschäftigungsgrad, Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Nationalität und Aufenthaltskategorie. Ursprünglich sollte der Abzug den Umstand ausgleichen, dass Arbeiter, die Schwerstarbeit leisten können, regelmässig höher entlöhnt wurden als diejenigen, die nur noch leichte Arbeiten erledigen konnten. Die weiteren Kategorien kamen im Laufe der Jahre dazu.

Leider beobachteten wir in den vergangenen Jahren eine immer restriktivere Praxis der IV-Stellen und kantonalen Gerichte in der Anwendung dieses Korrektivs, was schliesslich in einem Appell des Bundesgerichts an die kantonalen Gerichte und die IV-Stellen, für eine faire Anwendung der Abzüge zu sorgen, mündete. Denn diverse wissenschaftliche Untersuchungen hatten gezeigt, dass die restriktive Praxis das Erwerbspotential von invaliden Personen auf dem freien Arbeitsmarkt nicht mehr abzubilden vermochte (wir haben in unserem News-Beitrag vom 9. Juni 2022 darüber berichtet).

Im Zuge der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung (WEIV) wurde u.a. auch die Problematik um die Korrektur der Tabellenlöhne angegangen. Für die Betroffenen ging der Schuss jedoch nach hinten los. Obwohl man die bisherige Praxis des Bundesgerichtes mit Abzügen von bis zu 25% auf Verordnungsstufe regeln wollte, fand nur ein Abzug von 10% bei Teilzeiterwerbstätigkeit von 50% oder weniger Eingang in die Verordnung (Fassung von Art. 26bis Abs. 3 IVV ab 1.1.2022 bis 31.12.2023). Nach Meinung des BSV sollte fortan nur noch dieser Abzug angewendet werden dürfen. Damit wurden die weiteren Kategorien, unter denen zuvor Abzüge möglich waren, komplett ignoriert.

Im kürzlich ergangenen Entscheid (Urteil 8C_823/2023 vom 8. Juli 2024, zur Publikation vorgesehen) kam das Bundesgericht nun zum Schluss, dass diese Regelung nicht dem Willen des Gesetzgebers entspreche und zu restriktiv sei. Aus den parlamentarischen Diskussionen im Rahmen der WEIV sei klar der Wille hervorgegangen, die bisherige Gerichtspraxis mit Abzügen von bis zu 25% auf Verordnungsstufe zu regeln, nicht eine restriktivere Lösung zu schaffen. Demnach soll die bisherige Praxis in Ergänzung zur Regelung in der Verordnung Geltung haben. Eine positive Wendung für die Betroffenen.

Es wäre schön, wenn der Beitrag an dieser Stelle enden würde. Die Geschichte geht aber weiter…

Nachdem das Bundesgericht die Medienmitteilung über den oben genannten Entscheid am 23.7.2024 veröffentlichte, reagierte das BSV am 26.8.2024 mit dem Rundschreiben Nr. 445. Darin werden die IV-Stellen angewiesen, die Praxis gemäss dem Entscheid des Bundesgerichts nur bis 31.12.2023 anzuwenden. Denn per 1.1.2024 sei Art. 26bis Abs. 3 IVV erneut geändert und neu der Pauschalabzug von 10% eingeführt worden, der auf alle Invaliditätsgradberechnungen (sofern das Invalideneinkommen auf statistischen Werten basiert) anzuwenden ist. Damit sei dem Willen des Gesetzgebers Rechnung getragen, zumal nun Abzüge von bis zu 20% möglich seien. Ab 1.1.2024 bleibe daher kein Raum für weitere Abzüge.

Unserer Meinung nach widerspricht diese neue Regelung von Art. 26bis Abs. 3 IVV weiterhin dem Willen des Gesetzgebers. Denn ein Abzug von 20% ist nur in den Fällen möglich, in denen eine invalide Person 50% oder weniger arbeitet. Für alle, die in Pensen von 51% bis 100% arbeiten, wird weiterhin nur ein Abzug von 10% möglich sein, was wiederum einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten restriktiven Lösung entspricht.

Es wird im Verlauf erneut vom Bundesgericht zu beurteilen sei, ob dem Willen des Gesetzgebers mit der aktuellen Fassung Rechnung getragen wird oder nicht. Das letzte Kapitel dieser Saga ist daher noch lange nicht geschrieben.

RAin Stephanie C. Elms