Kinder im Strassenverkehr

17. Dezember 2024

Das BFS identifiziert bei 60% der schweren Strassenverkehrsunfällen mit Kindern «technisch gesehen» das Kind als Hauptursache. Gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit erhöht sich die Gefahr für Strassenverkehrsunfälle mit Kindern als Geschädigte, insbesondere weil es üblich ist, dass bereits sehr junge Kinder z. B. den Kindergartenweg selbständig bestreiten (vgl. bereits BGE 95 II 225) und sich somit unbeaufsichtigt von A nach B bewegen. Im Strassenverkehr gelten deshalb ganz spezifische Vorschriften und Regelungen, um die Schutzbedürftigkeit von Kindern zu berücksichtigen, die schliesslich auch für die Beantwortung der Haftungsfragen nach Unfallereignissen massgebend sind.

Besondere Vorsicht gegenüber Kindern im Strassenverkehr

Nach Art. 26 Abs. 2 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) sind Fahrzeuglenker verpflichtet gegenüber Kindern stets besondere Vorsicht walten zu lassen. Dies gilt selbst dann, wenn keine konkreten Anzeichen für ein Fehlverhalten des Kindes vorliegen oder auch an Orten, wo tatsächlich gar kein Kind zu sehen ist, bei denen aber typischerweise Kinder anzutreffen sind (BOLL, in: Handkommentar zum Strassenverkehrsrecht (Zürich 2022), Art. 26 SVG, N 997 & N 999).

Weder das Gesetz noch das Bundesgericht legen fest, bis zu welchem Alter dieser spezifische Schutz gelten soll (BOLL, a.a.O., N 1000). Diesbezüglich ist folgendes zu beachten: obwohl jedes Kind schon im Vorschulalter theoretisch in der Lage wäre, vor dem Betreten der Strasse anzuhalten und sich zu orientieren, tut dies nur jedes vierte (!) Primarschulkind auch tatsächlich und etwa 10% der Kinder laufen ohne jegliche visuelle Orientierung auf die Strasse. Sodann lassen Kinder von vier bis neun Jahren in spezifischen Situationen, z. B. wenn sich die Mutter auf der anderen Strassenseite befindet, jegliche Vorsicht vermissen und rennen achtlos auf die Strasse (COHEN, Kinder und ihre Verkehrsumwelt, Strassenverkehr 1/2019, S. 249-252). Dabei ist anzumerken, dass es sich bei dem erwähnten Verhalten nicht etwa um «schuldhaftes» Verhalten des Kindes handelt, sondern um eine bei Kindern typische Fixierung auf ein einzelnes Objekt oder einen Vorgang (den auf die Strasse rollenden Ball, die Mutter etc.), bei der alles andere ausgeblendet wird (COHEN a.a.O., S. 249-252 und Schmidt/Funk, Stand der Wissenschaft: Kinder im Strassenverkehr, Mensch und Sicherheit M306/2021, S. 20).

Daneben sind auch die Entwicklungen der motorischen, visuellen und auditiven Fähigkeiten sehr lange (teilweise bis über 12 Jahre) nicht gleich wie diejenigen eines Erwachsenen (umfangreich dazu die Analyse diverser wissenschaftlichen Studien von Schmidt und Funk, a.a.O.).

Vor diesem Hintergrund scheint es angemessen, den besonderen Schutz von Art. 26 Abs. 2 SVG gegenüber Kindern relativ lange gelten zu lassen. In der Lehre wird deshalb richtigerweise für eine Altersgrenze des besonderen Schutzes von etwa 14 Jahren plädiert, weil erstens ab dann der Gesetzgeber auch das Erteilen des Führerausweises für die Spezialkategorie M erlaubt (Motorfahrräder, Art. 6 Abs. 1 lit. a VZV), zweitens die Unfallhäufigkeit ab 14 Jahren abnimmt und dann konstant verläuft und drittens ein 14-jähriges Kind von der Grösse her nicht mehr gut von älteren Kindern zu unterscheiden ist (BOLL, a.a.O., N 1006 ff).

Selbstverschulden der Kinder

Beim Selbstverschulden der Kinder ist zu beachten, dass der Fahrzeughalter auch gegenüber Erwachsenen nur von seiner Kausalhaftung befreit wird, wenn das Selbstverschulden besonders schwer wiegt (Art. 59 Abs. 1 SVG). Bei Kindern unter 14 Jahren ist in der Regel eine solche Haftungsbefreiung des Fahrzeughalters, auch aus den oben aufgeführten Überlegungen, ausgeschlossen (so auch Huber/Frei: Haftungsquoten für Strassenverkehrsunfälle in: HAVE/REAS 01/2024 S. 14).

Betreffend eine Reduktion der Haftung des Fahrzeughalters aufgrund eines Selbstverschulden des geschädigten Kindes sind mitunter drei Kriterien massgebend: 1) die Instruktionen, welche das Kind betreffend sein Verhalten im Strassenverkehr erhalten hat; 2) die Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten und 3) besondere Umstände, die das Verhalten des Kindes, insbesondere seine Aufmerksamkeit, beeinflussen (MÜLLER/BRUMANN, Pas de faute concomitant avant 15 ans dans la circulation routière, Strassenverkehr 4/2017, S. 41).

Im Lichte der heute bekannten kognitiven Fähigkeiten der verschiedenen Altersklassen und in Anbetracht des Umstands, dass die Kinder schon im Kindergartenalter Instruktionen über das Verhalten im Strassenverkehr erhalten, sind diese Merkmale zu kritisieren. Nichtsdestotrotz wird ein mögliches Selbstverschulden des Kindes leider auch heute noch teilweise ab dem ersten Schuljahr, d.h. ab etwa 8 Jahren angenommen (Huber/Frei, a.a.O. S. 11-17). Ausserdem wird argumentiert, die Selbstverschuldensquote sei mit zunehmendem Alter schrittweise zu erhöhen (Huber/Frei, a.a.O. S. 11-17), obwohl sich das tatsächliche Sicherheitsverhalten von Primarschulkindern mit zunehmendem Alter nicht signifikant verbessert, sondern im Gegenteil kein nennenswerter Unterschied zwischen den Altersstufen der Primarschulkinder festzustellen ist (COHEN, Sicherheit von Kindern im Strassenverkehr als Fussgänger, Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht (2005), S. 272 ff. insb. S. 276).

Kinder sind somit nicht nur besonders gefährdet im Strassenverkehr, sie laufen darüber hinaus auch bei der Schadenregulierung Gefahr eine, für ihren tatsächlichen Verschuldensanteil, zu hohe Reduktion der Haftungssumme hinnehmen zu müssen.

RAin Anna Schneider