VVG-Revision: Klägergerichtsstand gegen schweizerische Versicherungen in Europa neu die Regel?
16. Dezember 2021
Per 1. Januar 2022 werden die Änderungen im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) in Kraft gesetzt. Neu haben Geschädigte unter anderem ein direktes Forderungsrecht gegenüber dem Versicherungsunternehmen (Art. 60 Abs. 1bis nVVG). Hat der Gesetzgeber mit dieser Neuregelung (ungewollt) einen künftigen Klägergerichtsstand im eurointernationalen Verhältnis geschaffen?
Am 13. Dezember 2007 hat der Europäische Gerichtshof sein berühmtes Odenbreit-Urteil gefällt. In diesem wurde entschieden, dass eine geschädigte Person an ihrem Wohnsitz gegen die Haftpflichtversicherung des Schädigers Klage erheben kann, falls eine direkte Klage gegen die Versicherung zulässig ist. In der Schweiz wurde diese Rechtsprechung übernommen (BGE 138 III 386). Ob eine direkte Klage zulässig ist, bestimmt das anwendbare Recht, wobei gemäss dem Europäischen Gerichtshof unerheblich ist, ob das Deliktsrecht oder das Versicherungsvertragsrecht dies vorsieht (s. auch Art. 18 der VERORDNUNG (EG) Nr. 864/2007 vom 11. Juli 2007 über das auf ausservertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht [Rom II]).
Eine Klage eines europäischen Geschädigten an dessen Wohnsitz gegen ein schweizerisches Versicherungsunternehmen war in der Praxis bisher nur im Strassenverkehrsrecht von Bedeutung, da das schweizerische Recht dort ein direktes Forderungsrecht vorsieht (Art. 65 Abs. 1 SVG). Auch das Odenbreit-Urteil betraf diese Konstellation. Mit der Einführung eines generellen direkten Forderungsrechts wird der Klägergerichtsstand gegenüber den schweizerischen Versicherungsunternehmen jedoch erheblich an Bedeutung gewinnen. Das schweizerische Recht und das dort neu vorgesehene direkte Forderungsrecht ist grundsätzlich immer dann anwendbar, wenn sich ein Unfall in der Schweiz ereignet oder, wenn die Haftung aus einem Vertragsverhältnis abgeleitet wird, die Person, welche die vertragliche Hauptleistung erbringt, ihren Sitz in der Schweiz hat (z.B. ein bestimmter Dienstleister). So sehen dies die vom ausländischen Richter anzuwendenden Bestimmungen von Rom II (s. oben) bzw. der VERORDNUNG (EG) Nr. 593/2008 vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) vor.
Es ist deshalb davon auszugehen, dass künftig etwa ein in Europa ansässiger Skifahrer bei einem Unfall in der Schweiz an seinem Wohnsitz gegen die Haftpflichtversicherung eines anderen (schweizerischen oder ausländischen) Skifahrers, mit dem er kollidiert ist, oder diejenige der schweizerischen Bergbahnen vorgehen kann, falls er diesen eine unzureichende Pistensicherung vorwirft. Das Gleiche wird für den europäischen Patienten bzw. Klienten gelten, der gegen einen Arzt oder Anwalt gerichtlich vorgehen möchte. Dies wird die (Verhandlungs-)Position von ausländischen Geschädigten zweifelsohne stärken, da ein Gericht im Ausland eher dazu geneigt sein wird, die Klage seiner Bürgerin oder seines Bürgers gegen ein fremdes Versicherungsunternehmen wohlwollend zu prüfen. Es ist deshalb mit Spannung zu erwarten, welchen Einfluss die schweizerische VVG-Revision auf die eurointernationale Schadenregulierung haben wird. In jedem Fall dürfte die Zusammenarbeit zwischen den Anwälten in den verschiedenen Ländern wichtiger werden, um das bestmögliche Ergebnis für den gemeinsamen Klienten zu erreichen.