Von den Fallgruben eines «einfachen» Verfahrens

15. Juni 2022

Das Sozialversicherungsverfahren wird weitgehend im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) geregelt. Dieses Gesetz entstand mitunter vor dem Hintergrund, dass «die Regelungen für den Bürger als komplex und wenig durchschaubar erscheinen» (Bericht der Kommission des Ständerates vom 27. September 1990 zur Parlamentarischen Initiative Allgemeiner Teil Sozialversicherung, S. 236). Ziel war unter anderem, den Versicherten durch das Verfahrensrecht den Zugang zur Sozialversicherung zu erleichtern (S. 245). Dass dieses Ziel in der Praxis teilweise in weiter Ferne ist, zeigt der vorliegende Fall geradezu exemplarisch.

Konkret wurden z.B. alle Sozialversicherungsbehörden «im Interesse des im Sozialversicherungswesen wenig bewanderten Versicherten» verpflichtet, fälschlicherweise an sie gelangte Gesuche und Eingaben an die zuständige Stelle weiterzuleiten (S. 259, vgl. Art. 30 ATSG; an anderer Stelle in den Materialien ist allgemein von einer «bürgernahen und benutzerfreundlichen» Verfahrensregelung die Rede). Weiter sind z.B. Fristen auch gewahrt, wenn die Versicherte rechtzeitig an eine unzuständige Behörde gelangt (Art. 39 Abs. 2 ATSG).

Auf diesen Geist des Gesetzes vertraute wohl ein Versicherter, als er seine Streitigkeit mit der Suva als Unfallversicherung selber ausfocht. Die Suva erliess einen abschlägigen Einspracheentscheid, gegen den sich der Versicherte mit einer als «Beschwerde/Einspruch» bezeichneten Schrift wehren wollte. Diese Eingabe reichte er allerdings nicht dem zuständigen Sozialversicherungsgericht ein, brachte sie aber immerhin fristgerecht persönlich bei der Suva Winterthur vorbei und gab sie dort ab. Die Suva scannte die Eingabe ein und leitete sie wie gesetzlich vorgesehen an das zuständige Sozialversicherungsgericht weiter. Das Original der Eingabe händigte sie dem Versicherten dagegen wieder aus (die Suva führt – ganz modern – digitale Dossiers). Der Versicherte reichte die gleiche Schrift zwei Tage später ebenfalls beim Gericht ein und wies auf einem Post-it darauf hin, dass er irrtümlicherweise zunächst bei der Suva Beschwerde erhoben habe.

Nun enthielt die «Beschwerde/Einspruch» unter anderem den Hinweis, dass der Versicherte «ab sofort» eine Anwältin eingeschaltet habe. Das Sozialversicherungsgericht folgerte daraus, dass er schon vorher gewusst habe, dass er die Eingabe dem Gericht und nicht der Suva einreichen müsse. Die Schrift sei gar nicht «versehentlich» bei der Suva gelandet, weshalb diese die Eingabe auch nicht hätte weiterleiten müssen. Mangels rechtzeitiger Beschwerde beim zuständigen Gericht trat dieses auf das Rechtsmittel somit gar nicht ein.

Das Bundesgericht wiederum verwarf diese Überlegung und erklärte, es sei irrelevant, ob die Schrift versehentlich bei der Suva eingereicht worden sei oder nicht. Die Beschwerdefrist sei nach Gesetz in jedem Fall mit einer Eingabe auch an eine unzuständige Stelle gewahrt. Allerdings vermochte die «bürgernahe und benutzerfreundliche» Regelung im ATSG den Versicherten letztlich doch nicht vor seinem Unheil zu bewahren – denn das Bundesgericht stützte den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts mit einer neuen Begründung: Die Eingabe erfülle zwar die Minimalanforderungen einer Beschwerde («Für sich alleine betrachtet liesse die Eingabe einen Beschwerdewillen des Beschwerdeführers und damit einen blossen Irrtum betreffend die Unzuständigkeit der Suva denn auch als naheliegend erscheinen.»). Der Versicherte habe seine Eingabe bei der Suva aber letztlich nur vorgezeigt und das Original gleich nach dem Einscannen wieder mitgenommen. Aufgrund dieses Ablaufs sei die (implizite) Überlegung des kantonalen Gerichts nicht willkürlich, dass der Versicherte zu diesem Zeitpunkt «noch keine Beschwerde» haben einreichen wollen (das habe er schliesslich erst verspätet beim Gericht selbst gemacht) – selbst wenn er sich über den Fristablauf an diesem Tag im Klaren gewesen sei und die Suva das Dokument als «Beschwerde» gesetzeskonform weiterleitete.

Zuletzt sei auch die Beratungs- und Aufklärungspflicht der Suva nicht verletzt. Zwar verwarf das Bundesgericht auch hier die Erwägungen des kantonalen Gerichts, kam aber mit anderer Begründung zum gleichen Schluss: Ohne Beschwerdewillen brauche es auch keine Beratung und Aufklärung; zudem sei die Suva nicht gehalten, juristisch geschultes Personal bereitzustellen, um persönlich eingereichte Eingaben unmittelbar unter rechtlichen Aspekten zu prüfen und den Versicherten hinsichtlich Zuständigkeit und Fristenlauf rechtsberatend zur Seite zu stehen. Aus diesen Gründen bestätigte das Bundesgericht den kantonalen Nichteintretensentscheid.

Angesichts solcher verfahrensrechtlicher Fallgruben – von den inhaltlichen Tücken des Sozialversicherungsrechts ganz zu schweigen – ist es wohl allen Versicherten wärmstens zu empfehlen, sich in Versicherungsverfahren lieber früh als zu spät um rechtliche Beratung zu kümmern.

Urteil des Bundesgerichts 8C_362/2021 vom 24. November 2021