Urteil 8C_658/2022 vom 30. Juni 2023: Willkürliche Festlegung des Invalideneinkommens
9. August 2023
Die von uns vertretene Versicherte bezog nach durchgeführten Eingliederungs- massnahmen aufgrund einer 2009 diagnostizierten Erkrankung des Immunsystems sowie schwerer Polyneuropathie der unteren Extremitäten zunächst eine ganze IV-Rente und später eine Dreiviertelsrente. Dabei arbeitete sie in einem halben Pensum als Aushilfs-Schuhmodeberaterin. Im Jahr 2012 wurden schliesslich aufgrund starker Schmerzen in den Beinen weitere Umschulungsmassnahmen geprüft und durchgeführt. Die IV-Stelle schloss diese schliesslich im Juni 2014 ab mit dem Hinweis, es sei zum jetzigen Zeitpunkt keine Umschulung möglich, da erst die Belastbarkeit gesteigert werden müsste. Zwischenzeitlich arbeitete die Versicherte seit Juni 2014 in einem Pensum von 50% an einem geschützten Arbeitsplatz als Telefonistin bzw. am Empfang. Aufgrund der Geburt ihrer Tochter im April 2020 leitete die IV-Stelle eine Revision ein und ermittelte bei einem nach durchgeführter Haushaltsabklärung festgelegten Erwerbspensums im Gesundheitsfall von 70% neu einen IV-Grad von 53%, worauf die bisherige Dreiviertelsrente ab Mai 2022 auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung herabgesetzt wurde.
Hiergegen wurde beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Beschwerde erhoben, welche daraufhin mit Urteil vom 5. Oktober 2022 abgewiesen wurde. Gegen das Verdikt des bernischen Verwaltungsgerichts wehrte sich die von uns vertretene Versicherte mittels Bundesgerichtsbeschwerde. Nebst der Rüge, die Rentenherabsetzung verletze die gemäss Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Urteil di Trizio gegen Schweiz aufgestellten Grundsätze wurde für die Versicherte vorgebracht, dass sie mangels Verwertbarkeit ihrer Restarbeitsfähigkeit ohnehin kein relevantes Invalideneinkommen mehr erzielen könne, da sie ihre medizinisch verbleibende Restarbeitsfähigkeit nur noch im geschützten Rahmen verwerten könne. Daraus resultiere bei einem Erwerbstatus von 70% ein IV-Grad von 70% und begründe damit einen Anspruch auf eine volle Rente.
Das Bundesgericht hat nun in seinem Urteil festgehalten, dass das EGMR-Urteil in Sachen di Trizio mittels der 2018 eingefügten Verordnungsbestimmungen (Abs. 2 bis 4 des aArt. 27bis IVV) konventionskonform umgesetzt worden sei. Demgegenüber hat das Bundesgericht festgestellt, dass von keiner Seite geltend gemacht worden sei, dass die Versicherte die ihr verbliebene medizinische Restarbeitsfähigkeit in einem 50%-Pensum an einem geschützten Arbeitsplatz nicht bestmöglich erwerblich verwerte. Indem die IV-Stelle nicht auf das tatsächlich erzielte Jahreseinkommen von gut CHF 10’000 abstellte sondern – und in der Folge auch das kantonale Gericht – bei der Festsetzung des Invalideneinkommens von einem theoretischen, aus der LSE-Statistik herangezogenen Invalideneinkommen ausging, ermittelte die IV-Stelle in der Folge trotz leidensbedingtem Abzug in der Höhe von 15% ein Invalideneinkommen, welches mehr als doppelt so hoch war als der tatsächlich generierte Verdienst der Versicherten. In diesem Vorgehen erkannte das Bundesgericht eine Verletzung des Willkürverbots sowohl der Verwaltung als auch der Vorinstanz und wies die Sache zur ergänzenden Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zurück.