plädoyer 6/2022 – Unabhängigkeit und Qualität von medizinischen Gutachten – was wartet nach dem Tunnel?

15. März 2023

Vor dreieinhalb Jahren diskutierte Schadenanwalt Soluna Girón im Jusletter die geplanten Gesetzesänderungen zu Unabhängigkeit und Qualität der medizinischen Gutachten in den Sozialversicherungen (Unabhängigkeit und Qualität von medizinischen Gutachten – Licht am Ende des Tunnels?). Das neue Recht ist nun seit einem Jahr in Kraft. Stellt sich die Frage – auf was dürfen die Versicherten nach den Tunnel-Jahren hoffen? Die Zeitschrift plädoyer 6/2022 schrieb kürzlich über die neue Aufsichtskommission über die Gutachten und befragte dabei auch Soluna Girón zu seiner Einschätzung.

Die Gesetzesänderung beruhte auf einer umfassenden unabhängigen Untersuchung des Gutachtenswesens in der Sozialversicherung. Der entsprechende Bericht nahm erfreulicherweise auch Vorschläge aus dem Jusletter-Beitrag auf (Dringender Handlungsbedarf im Begutachtungswesen der Invalidenversicherung). Thema waren dabei u.a. die Kompetenzen der neuen Gutachtensaufsichts-Kommission: Diese sollte nach übereinstimmendem Vorschlag nicht nur Empfehlungen, sondern verbindliche Vorgaben machen können. Dieser Ansatz fand leider keine Beachtung. Die Kommission muss deshalb aktuell mit reinen Empfehlungen arbeiten.

So positiv die Schaffung und Besetzung dieser Kommission mit durchaus bekannten und engagierten Mitgliedern ist – die Griffigkeit ihrer Aufsicht ist noch offen. Bis auf weiteres wird es wohl letztlich an den Gerichten liegen, den Empfehlungen Nachachtung zu verschaffen. Ergeht es den Empfehlungen dagegen wie den Gutachtensleitlinien der medizinischen Fachgesellschaften, dürfen sich die Versicherten nicht viel Licht nach dem Tunnel erhoffen. Die Rechtsprechung hat diese Leitlinien zwar zunächst gefordert; in der späteren Praxis hatte deren Nicht-Beachtung aber keinerlei Konsequenzen. So würde auch dieser neuerliche Anlauf zur Behebung der notorischen Missstände im Gutachtensbereich versanden.

Man muss somit mit den Kommissionsmitgliedern hoffen, dass dieses Mal wirklich der politische und juristische Wille besteht, etwas zum Besseren zu ändern. Erfreulich ist in jedem Fall, dass die Kommission die ersten Empfehlungen in den nächsten Monaten publizieren will. Ebenso ist positiv, dass sie auch im Sinne eines Peer-Reviews existente Gutachten auf ihre Qualität überprüfen wird und die Sicht der Versicherten im Gutachtensprozess erheben möchte. Wie der Kommissionspräsident selber sagt: Massnahmen zur Steigerung von Akzeptanz und Vertrauen ins Gutachtenwesen sind nötig. Fruchten auch diese jüngsten Bemühungen nicht, bleibt den Versicherten immerhin noch ein Licht in weiter Ferne: Gemäss Evaluationsbericht müsste dann der komplette Umbau des jetzigen Systems geprüft werden – weg vom (gewinnorientierten) Gutachtensmarkt hin zu einer Anbindung der Gutachten an die öffentlichen Spitäler und Kliniken. Das hätte sicher das Potential, die Situation wirklich und nachhaltig zu verbessern.

Aufsicht über Gutachter: Griffige Kontrolle fehlt