Strassburger Gerichtshof gewährt doppelt so hohe Genugtuung wie solche nach bisheriger Schweizer Praxis

In einem von unserem Anwaltskollegen Philip Stolkin erstrittenen Urteil vom 30. Juni 2020 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem tragischen Fall, in welchem sich ein vorläufig Festgenommener bei mangelnder polizeilicher Überwachung das Leben genommen hatte, einstimmig entschieden, dass der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Missachtung von Art. 2 EMRK (Schutz des Lebens) vorzuwerfen ist. Daneben, dass eine Verletzung des fundamentalen Menschenrechts festgestellt worden ist, enthält das Urteil einen interessanten Aspekt, wenn es um die Genugtuungsbemessung geht.

Beschwerde geführt hat die Mutter (Jahrgang 1956) des 40 Jahre alt gewordenen Verstorbenen. Nach bisheriger schweizerischer Praxis würde bei der Ermittlung der Genugtuungssumme bei Verlust eines erwachsenen Kindes eine Ausgangsgenugtuung von Fr. 20’000.– bis Fr. 25’000.– veranschlagt. Nachdem im vorliegenden Fall weder Erhöhungs- noch Reduktionsgründe ersichtlich sind, würde ein Betrag in dieser Grössenordnung auch der konkret zugesprochenen Genugtuung zu Grunde gelegt. Wohl von diesen Überlegungen hat sich auch die Beschwerdegegnerin (die Eidgenossenschaft) leiten lassen, als sie im EMRK-Verfahren im Fall einer Verurteilung die Zusprache einer Genugtuungssumme  von Fr. 20’000.– als Kompensation für den Verlust des Sohnes und Fr. 5’000.– für die Unbill auf Grund der Verletzung der Verfahrensnormen beantragt hat.

Die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben der beschwerdeführenden Mutter – auch unter Berücksichtigung, dass von Seiten der staatlichen Organe keine Schädigungsabsicht vorlag – derweil den Betrag von EUR 50’000.– zugesprochen.

Dies kann ohne Weiteres als «Wink mit dem Zaunpfahl» an die hiesigen Gerichtsbehörden verstanden werden, die im Vergleich mit dem europäischen Ausland notorisch tiefen Genugtuungsansätze endlich markant zu erhöhen.