Psycho-Adäquanzpraxis oder: wo die Willkür regiert

12. September 2023

Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts setzt die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs bei psychischen Fehlentwicklungen nach einem Unfall (sog. «Psycho-Praxis, s. BGE 115 V 133) grundsätzlich voraus, dass dem Unfallereignis für die Entstehung einer psychisch bedingten Erwerbsunfähigkeit eine massgebende Bedeutung zukommt. Wie willkürlich diese Psycho-Adäquanzpraxis ist, zeigt sich beispielhaft am Schicksal eines Versicherten, der von schadenanwaelte vertreten wurde.

Für die Beurteilung, ob ein Kausalzusammenhang vorliegt, ist zunächst an das Unfallereignis anzuknüpfen, wobei eine Einordnung des Unfalls als banal bzw. leicht, im mittleren Bereich liegend oder schwer vorzunehmen ist. Je nach Qualifikation des Unfallereignisses muss ein bestimmtes Kriterium oder müssen mehrere Kriterien (allenfalls in bestimmter Ausprägung) erfüllt sein, damit der Kausalzusammenhang bejaht wird (bspw. müssen besonders dramatische Begleitumstände gegeben sein, muss die ärztliche Behandlung ungewöhnlich lange gedauert haben oder müssen körperliche Dauerschmerzen vorliegen). Wird der Unfall als leicht oder mittelschwer qualifiziert, wird der Kausalzusammenhang in der Regel verneint, womit kein Anspruch auf Leistungen – insbesondere Taggelder und Invalidenrenten – besteht.

Ein von schadenanwaelte vertretener Versicherter war bei der Arbeit auf einer Baustelle in einen Schacht (Höhe 4.81 Meter) gestürzt und erlitt dabei ein schweres Polytrauma mit starken Schmerzen und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die obligatorische Unfallversicherung kam zum Schluss, dass die Schmerzen des Versicherten organisch nicht mehr begründet seien und ging deshalb von psychischen Beschwerden aus. Die Kausalität zwischen dem Unfall und diesen Beschwerden wurde verneint. Der Versicherte erhielt in der Folge trotz starker Beeinträchtigungen keinerlei Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung mehr.

Eine Beschwerde gegen diesen Entscheid wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab. Es bestätigte die von der Suva vorgenommene Qualifikation des Unfallereignisses als mittelschweren Unfall und verneinte den Kausalzusammenhang. 

Gegen das Urteil des kantonalen Gerichts liess der Versicherte Beschwerde ans Bundesgericht erheben. Dieses hiess die Beschwerde gut (s. BGer 8C_427/2022 vom 28. Februar 2023). Das Bundesgericht kritisierte, dass die Suva und das kantonale Gericht den Sturz in einen Schacht von einer Höhe von 4.81 Metern auf harten Untergrund als mittelschweren Unfall qualifiziert hatten. Gemäss Bundesgericht war das Unfallereignis bei den mittelschweren Unfällen im Grenzbereich zu den schweren Ereignissen einzureihen, wobei für die Adäquanz bereits das Vorliegen eines einzigen Kriteriums genügt, ohne dass dieses in besonders ausgeprägter Weise erfüllt sein müsste (BGE 148 V 301 E. 4.4.1). Die Angelegenheit wurde zur weiteren Prüfung an die Unfallversicherung zurückgewiesen, womit der Versicherte nun wieder gute Chancen auf Leistungen hat.   

Dieser Fall zeigt exemplarisch auf, wie willkürlich die Psycho-Adäquanzpraxis ist. Je nachdem, wie das Unfallereignis (von der Versicherung oder von den Gerichten) qualifiziert wird, erhält bspw. ein schwer beeinträchtigter und nicht mehr arbeitsfähiger Versicherter lebenslang eine Invalidenrente oder gar nichts. Trotz eines identischen Gesundheitsschadens kann es deshalb sein, dass eine Person Leistungen der Unfallversicherung erhält und die andere nicht. Die gesundheitliche Beeinträchtigung eines Versicherten und deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit müssten jedoch für den Entscheid über Versicherungsleistungen vorherrschend sein und nicht, ob der Rechtsanwender das Unfallereignis als banal, mittelschwer oder schwer einstuft. Grundsätzlich sollte primär eine medizinische Expertin unter Berücksichtigung aller Umstände über Leistungen entscheiden und nicht der Rechtsanwender durch eine Qualifikation der Schwere des Unfallereignis bereits die Weichen von Anfang an entscheidend stellen.

Urteil des Bundesgerichts vom 28. Februar 2023