«Pflästerlipolitik» in der IV, Anstösse zur Revision der Invalidenversicherung aus Sicht eines Praktikers, in: Jusletter 10. Mai 2021, Martin Hablützel

Die gegenwärtig laufende Umsetzung der «Weiterentwicklung der Invaliden- versicherung» (WEIV) bietet verschiedene Chancen für Verbesserungen des Sozialwerks. Allerdings laufen die konkreten Umsetzungsentwürfe in die fal- sche Richtung. Der Beitrag wirft einige kritische Fragen aus der Sicht der Anwendungspraxis auf.

Weiterentwicklung der Invalidenversicherung; «Die Chance packen!»


[1] Bundesrat und Parlament wollen mit der «Weiterentwicklung der Invalidenversicherung» (WEIV) die Eingliederung von Kindern und Jugendlichen sowie Menschen mit psychischen Be- einträchtigungen verstärken. Zudem soll das heutige Rentenmodell mit Schwellen durch ein stu- fenloses System ersetzt werden.1 Das Parlament hat die Gesetzesrevision im Sommer 2020 verab- schiedet. Sie soll 2022 in Kraft treten. Der Bundesrat ist nun beauftragt, diese Ziele auch durch Änderung der Verordnung zum Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVV) umzusetzen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) des EDI hat die Ausführungsbestimmungen nun entworfen und diese mit Erläuterungen2 in die Vernehmlassung geschickt. Die Änderungen um- fassen nun ein Gesetzeswerk von 40 Seiten in verschiedenen Verordnungen.


[2] Die Revision soll auch zur Qualitätssicherung und Transparenz im Gutachterwesen beitra- gen und klare Regeln zur Bemessung des Invaliditätsgrades aufstellen. Was hier als Verbesse- rung angepriesen wird, vermag aber massgeblich negativ in die Stellung der invaliden Personen

einzugreifen. Die dem Sparzwang in der Invalidenversicherung gefolgte Rechtsentwicklung des Bundesgerichts wird nun in unzähligen Bestimmungen zementiert.


[3] Anstatt sich immer weiter in ein Dickicht von unzähligen und selbst für den Praktiker kaum mehr überblickbaren Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen zu begeben, bedarf es einer Rückbesinnung darauf, was die Invalidenversicherung bezweckt und welche Mängel das heu- tige System aufweist. Die aktuelle Revision bietet Gelegenheit, das Rentensystem und das Abklä- rungsverfahren insgesamt zu evaluieren, damit es zweckmässig weiterentwickelt werden kann. Diese Chance gilt es nun zu nutzen.