Observationen: Wann sind sie zulässig und was gilt es bei der Auswertung des Bildmaterials zu beachten?

15. März 2023

Manchmal werden Bezüger von Versicherungsleistungen von Versicherungen (bspw. Invalidenversicherung, Krankentaggeldversicherung, Unfallfallversicherung, Haftpflichtversicherung) überwacht (sogenannte „Observation“). Diese versuchen, durch die Observation aufzuzeigen, dass die versicherte Person Leistungen zu Unrecht bezieht. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Versicherungen teilweise falsche Schlüsse aus dem Observationsmaterial (meist Bild- und Videoaufnahmen) ziehen und von den versicherten Personen deshalb zu Unrecht Leistungen zurückfordern oder diese einstellen. Lesen Sie im folgenden Beitrag, auf welche Punkte zu achten ist.

Im Rahmen der im Jahr 2018 erfolgten Revision des Bundesgesetzes über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) hat das Parlament erstmals eine gesetzliche Grundlage für Observationen für alle Sozialversicherungen (z.B. Invalidenversicherung, Unfallversicherung) geschaffen. Grund dafür war der zuvor ergangene Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen VUKOTA-BOJIĆ gegen die Schweiz. Wir haben in unserem Newsletter vom November 2016 darüber berichtet. Eine Observation ist gemäss Art. 43a Abs. 1 ATSG nur zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass die versicherte Person unrechtsmässig Leistungen bezieht und die Abklärungen sonst aussichtlos wären oder unverhältnismässig erschwert würden. Ferner wird insbesondere vorausgesetzt, dass sich die versicherte Person an einem allgemein zugänglichen Ort befindet, der frei einsehbar ist (also bspw. nicht im Innern ihrer Wohnung). Art. 43a ATSG sowie die dazugehörige Verordnung (Art. 7a-7i ATSV) sehen zahlreiche weitere Voraussetzungen vor, die erfüllt sein müssen.

Für die Überwachung durch private Versicherungen (etwa Krankentaggeldversicherungen oder Haftpflichtversicherungen) existiert weiterhin keine gesetzliche Grundlage. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (s. den Leitentscheid in BGE 136 III 410) ist eine Observation durch diese Versicherungen grundsätzlich zulässig, wenn Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel an den geäusserten gesundheitlichen Beschwerden aufkommen lassen. Weiter muss die Observation verhältnismässig sein. Dies bedeutet, dass eine Abwägung zwischen den Interessen der Versicherung (finanzielles Interesse, Schutz der gesamten Versichertengemeinschaft) und den Interessen der zu überwachenden Person (Eingriff in die Privatsphäre) stattfinden muss. Die bisherige gerichtliche Praxis zeigt, dass eine durch private Versicherungen angeordnete Observation kaum je als unzulässig bzw. unverhältnismässig qualifiziert wurde. Entsprechend ist am Ende von Bedeutung, wie das im Rahmen der Observation gewonnene Bildmaterial zu interpretieren ist.

Freilich versuchen die Versicherungen aus den entsprechenden Bildern und Videos oft den Schluss zu ziehen, dass bei der überwachten Person keine massgebenden Beschwerden vorliegen. Diesbezüglich werden die Bilder und Videos jedoch oft falsch und einseitig interpretiert. Dies sei an den folgenden zwei Beispielen aufgezeigt, mit welchen sich der Autor dieses Beitrags auseinanderzusetzen hatte:

Die versicherte Person wird dabei gefilmt, wie sie im Fitnessstudio trainiert. Daraus zieht die Versicherung den Schluss, dass die Person deshalb auch körperlich arbeiten könne. Nicht berücksichtigt wird dabei jedoch, dass die überwachte Person ausschliesslich feinmotorisch arbeitet und ihre Arbeitsunfähigkeit in einer entsprechenden Einschränkung begründet liegt. Im Fitnessstudio werden jedoch nicht die für die Feinmotorik massgebenden Muskeln belastet bzw. trainiert, so dass daraus keine Schlüsse auf die Arbeitsfähigkeit in der Tätigkeit, welche die überwachte Person ausübt, gezogen werden konnten. Zudem wurde das Training vorgenommen, um körperlich wieder fit zu werden und sich zu regenerieren. Letzteres half im Ergebnis auch bei der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit, was am Schluss auch dem Versicherer zu Gute kam.

Das zweite Beispiel betraf eine psychisch beeinträchtigte Person, die nicht mehr arbeiten konnte. Sie wurde dabei gefilmt, wie sie mit einer Freundin in der Stadt einen Kaffee trank und dabei auch lächelte. Daraus zog die Versicherung den Schluss, dass keine psychische Erkrankung vorliegen könne. In diesem Zusammenhang war jedoch zu beachten, dass viele psychische Erkrankungen – so auch die hier interessierende – einen sozialen Austausch mit einer Freundin nicht verunmöglichen bzw. ein solcher sogar der Genesung dienen kann. Zudem beachten Versicherungen bei psychisch kranken Personen oft nicht, dass es sich beim Observationsmaterial meist um Momentaufnahmen handelt, welche nicht das wahre Innenleben der überwachten Person widerspiegeln.

Schliesslich muss auch darauf hingewiesen werden, dass das Observationsmaterial alleine in der Regel nie ausreichend ist für einen Entscheid, sondern immer noch vorab und unter Berücksichtigung der weiteren medizinischen Akten ärztlich gewürdigt werden muss.

Auch wenn Rückforderungen und Einstellungen von Versicherungsleistungen gestützt auf Observationen in gewissen Fällen zweifelsfrei ihre Berechtigung haben, so gibt es umgekehrt immer wieder Fälle, in denen diese Berechtigung fehlt bzw. der massgebende Einzelfall von den Versicherungen zu wenig gewürdigt wird. Wir empfehlen deshalb versicherten Personen, welche von Versicherungen observiert wurden und anschliessend mit Rückforderungen oder Einstellungen von Versicherungsleistungen konfrontiert werden, juristischen Rat einzuholen.