Nach Alkoholkonsum auf die Skipiste: Grobfahrlässiges Verhalten?
22. September 2022
Den Skitag in einer Bar am Pistenrand mit einigen Drinks ausklingen lassen: Für viele gehört das Après-Ski-Erlebnis zu einem gelungenen Wintersporttag dazu. Was jedoch, wenn anschliessend in angetrunkenem Zustand mit den Skis die Abfahrt über die geschlossenen Pisten in Anspruch genommen wird und sich ein Unfall mit einem Pistenfahrzeug ereignet? Kann in solchen Fällen eine Haftung vorliegen oder scheitert dies von Vornherein an einem grobfahrlässigen Verhalten des Skifahrers? Über diese Frage musste kürzlich ein englischer Richter im Zusammenhang mit einem Unfall in der Schweiz befinden und dabei schweizerisches Recht anwenden. Lesen Sie hier, um was es genau ging, wie es überhaupt zum Verfahren in England kam und wie der Richter entschieden hat.
Konkret war folgender Unfallhergang zu beurteilen: Nach einem Skitag besuchte eine Gruppe von Skifahrern eine Bar, die sich inmitten des Skigebiets befand und auch nach Schliessung der Pisten noch geöffnet hatte. Nach der Konsumation von einigen alkoholischen Getränken schnallten sich die Mitglieder der Gruppe die Skis an und überquerten eine Piste, welche von Pistenfahrzeugen präpariert wurde. Eine Person stürzte und schaffte es nicht, wieder auf die Beine zu kommen. Der Fahrer eines rückwärts manövrierenden Pistenfahrzeugs sah den Skifahrer nicht und überrollte ihn. Dieser kam mit verhältnismässig glimpflichen Verletzungen davon. In der Folge war strittig, ob die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung, bei welcher das Pistenfahrzeug versichert war, für den Schaden aufkommen musste. Der Skifahrer beschritt den Klageweg.
Vor dem „Brexit“ war Grossbritanien, wie die übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, auch Vertragsstaat des sogenannten „Lugano-Übereinkommen“, das u.a. die gerichtliche Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten regelt. Auch die Schweiz ist Vertragsstaat des Übereinkommens. Bei Unfällen im Zusammenhang mit Motorfahrzeugen, wozu auch Pistenfahrzeuge gehören, kann eine geschädigte Person gemäss dem Lugano-Übereinkommen an ihrem Wohnsitz Klage gegen die Haftpflichtversicherung erheben, bei der das Fahrzeug versichert ist (wir haben darüber und auch über die Ausweitung dieses Klägergerichtsstands aufgrund des neuen direkten Forderungsrechts im schweizerischen VVG bereits berichtet, s. Newsletter vom Dezember 2021). Da der Anspruch noch vor dem „Brexit“ gerichtlich geltend gemacht wurde, konnte die Klage vor einem englischen Gericht erhoben werden. Der Richter musste jedoch schweizerisches Recht anwenden, da sich der Unfall hier ereignet hat.
Schadenanwalt Silvio Riesen wurde vom englischen Anwalt der klägerischen Partei in jenem Verfahren als Experte für schweizerisches Haftpflichtrecht bezeichnet und durfte in dieser Funktion während einer mündlichen Verhandlung verschiedene Fragen zum schweizerischen Recht beantworten. Am Ende oblag es dem Richter zu beurteilen, ob das Verhalten des Skifahrers (überqueren einer geschlossenen Piste, auf welcher Pistenfahrzeuge operierten, in angetrunkenem Zustand) als grobfahrlässig zu qualifizieren war. Grobfahrlässiges Verhalten liegt – ganz vereinfacht gesagt – grundsätzlich dann vor, wenn man sich fragen muss: „Wie konnte er das nur tun?„. Der Richter befand, dass ein solch schwerwiegendes Verschulden nicht vorlag, und bejahte deshalb die Haftung. Die Schadenersatzleistungen kürzte er jedoch um 40 %, da er auch beim Skifahrer eine Verantwortung für den Unfall sah.
Dies ist aus unserer Sicht ein stimmiges Resultat, insbesondere wenn bedenkt wird, dass Skigebiete mit ihren Après-Ski-Angeboten bzw. Zulassungen von entsprechenden Lokalen im Skigebiet solches Verhalten erst ermöglichen. Entsprechend ist denn auch die Präsenz von Wintersportlern auf geschlossenen Pisten nach einem Barbesuch keine Seltenheit. Folgerichtig kam der Richter denn auch nicht zum Schluss: „How could he do that?“
Falls Sie an weiteren Informationen zum Urteil in diesem Fall interessiert sind, können Sie RA Silvio Riesen gerne kontaktieren.