Kürzung der Entschädigung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands – Hindernis zum Zugang zum Recht

15. Dezember 2022

Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand. So verspricht es Art. 29 Abs. 3 der Bundesverfassung. Niemandem soll der Zugang zum Recht infolge Mittellosigkeit verwehrt bleiben. Indem die Gerichte die Entschädigungen der unentgeltlichen Rechtsbeistände teilweise (erheblich) kürzen, wird dieser Grundsatz jedoch in Frage gestellt. Auch der Autor dieses Beitrags musste sich kürzlich mit dieser Problematik auseinandersetzen.

schadenanwaelte vertrat einen Versicherten gegenüber einer grossen Krankentaggeldversicherung. Der Mann war, nachdem die Versicherung seine Taggelder eingestellt hatte, ohne jedes Einkommen.

Nachdem ein aussergerichtlicher Einigungsversuch gescheitert war, erhob schadenanwaelte gegen die Versicherung Klage. Es folgte ein umfassendes zivilprozessuales Klageverfahren mit mehrfachen Schriftenwechseln und Eingaben beider Seiten von total rund 100 Seiten. Dazu kamen rund halb so viele Beilagen als Beweismittel, davon viele medizinische Berichte und ein grösseres Versicherungsgutachten zum Gesundheitszustand des Klägers. Da der Kläger kein Einkommen hatte, bewilligte ihm das Gericht die unentgeltliche Rechtspflege und bestellte Schadenanwalt Soluna Girón als unentgeltlichen Rechtsbeistand.

Hinsichtlich der Entschädigung des Rechtsbeistands war das kantonale Gericht der Auffassung, dass die geleistete Arbeit von rund 50 Stunden im Verfahren zu viel gewesen sei. Nach Meinung des Gerichts hätten konkret lediglich etwa 15 Stunden Arbeit ausgereicht, um die eigenen Rechtsschriften zu verfassen, diejenigen der Gegenseite zu studieren, die umfangreichen Akten zu lesen und mit dem Klienten zu kommunizieren. Entsprechend kürzte es die Entschädigung und berechnete diese auf der Basis von 15 Stunden.

Schadenanwalt Soluna Girón wehrte sich dagegen vor Bundesgericht. Er wies darauf hin, dass auch Mandate in unentgeltlicher Rechtspflege mit der üblichen und nötigen Sorgfalt zu führen seien; jede Person habe unabhängig von ihren Zahlungsmöglichkeiten ein Recht auf einen gleichermassen engagierten Anwalt. In 15 Stunden hätte der Fall nur sehr oberflächlich und nicht mit dieser Sorgfalt geführt werden können, umso mehr als das Versicherungsunternehmen durch seinen Rechtsdienst sehr ausführlich und detailliert prozessiert und entsprechend auch lange Rechtsschriften eingereicht hatte.

Das Bundesgericht bekräftigte einleitend, dass die Entschädigung so festgesetzt werden müsse, dass die unentgeltliche Rechtsvertretung über den Handlungsspielraum verfüge, den sie zur wirksamen Ausübung des Mandats benötige. Dann kehrt der Tenor des Urteils allerdings: Jedoch sei es grundsätzlich Sache der kantonalen Gerichte zu beurteilen, ob die anwaltlichen Bemühungen angemessen seien. Das Bundesgericht rolle das kantonale Verfahren nicht neu auf und untersuche insbesondere nicht, ob die Rechtsschriften so notwendig und im Verhältnis zum Fall angemessen gewesen seien. Daher komme ein Eingreifen praktisch nur bei Willkür in Frage.

Konkret zum Fall scheine die Reduktion auf 15 Stunden zwar als viel. Das kantonale Gericht habe damit aber keine geradezu untragbare Beurteilung im Sinne der vorherigen Ausführungen gemacht.

Mit seinem Urteil bestätigte das Bundesgericht gleich mit, dass der kantonale Entscheid über die Entschädigung der unentgeltlichen Rechtsbeiständin faktisch letztinstanzlich ist und es keine unabhängige Überprüfungsmöglichkeit durch das Bundesgericht gibt – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Leider sind solche erheblichen Kürzungen der Honorare von unentgeltlichen Rechtsbeiständen keine Seltenheit.

Viel kritischer als das Bundesgericht äusserte sich das Bundesstrafgericht in einer ganzen Reihe von fast gleichzeitigen Urteilen zu Entschädigungskürzungen im Kanton Aargau: In 17 Fällen kam das Bundesstrafgericht zum Schluss, dass das kantonale Gericht den Anwält:innen ihr Honorar zu Unrecht gekürzt hatte (Aargauer Zeitung vom 23. August 2022, «Anwälte wehren sich ein zweites Mal gegen Honorarkürzung im Aargau – und bekommen wieder recht»). Das Bundesstrafgericht zeigte damit zum einen, dass es eben doch eine Überprüfung geben könnte, und bringt zum anderen Risiken und Nebenwirkungen solcher Kürzungen bspw. im Beschluss vom 28. Juni 2022treffend auf den Punkt:

„Mit einer Kürzung der Entschädigung von 50% und mehr bringe die Vorinstanz zum Ausdruck, dass der Anwalt entweder zur Hälfte unnötige Arbeit gemacht habe oder aber zwar nötige Arbeit, diese aber nur halb so effizient ausgeführt habe, wie von einem erfahrenen Anwalt erwartet werden kann; oder eine Kombination beider Mängel. Das sei ein massiver Vorwurf an den Anwalt und es brauche gute Gründe, um einen solchen Vorwurf zu plausibilisieren. Eine so weitgehende Kürzung über das ganze Mandat müsse sich zumindest mit den spezifischen Eigenheiten des Verfahrens auseinandersetzen, die einen Einfluss auf die anwaltschaftliche Arbeit haben mussten (E. 4.2). Zudem würden regelmässige Kürzungen möglicherweise einen Teufelskreis in Gang setzen: Die Anwältin, die damit rechne, nur für einen Teil oder gar Bruchteil ihrer Forderung entschädigt zu werden, werde motiviert, zu viel in Rechnung zu stellen, um im Ergebnis nach der zu erwartenden Kürzung durch das Gericht noch angemessen für ihren notwendigen Aufwand entschädigt zu werden. Sei das Vertrauen einmal zerstört, sei es erfahrungsgemäss nur schwer wiederherzustellen. Eine andere Konsequenz könne die folgende sein: Anwältinnen, die mit willkürlichen Kürzungen ihrer ausgewiesenen Honorarforderungen rechnen müssten, könnten versucht sein, das Kostenrisiko so gering wie möglich zu halten, indem sie in ein unentgeltliches Mandat so wenig Aufwand wie möglich investierten. Solches dürfte aber in Widerspruch zu ihren Berufspflichten stehen und auch dem Anspruch der unentgeltlich vertretenen Person auf Zugang zum Recht nicht genügen. Das Gericht dürfe die Anwaltschaft dieser Versuchung nicht aussetzen (E. 4.3).“

Es ist bekannt, dass einige Anwält:innen stets «leider zeitlich keine Kapazitäten» haben, sobald bei einer Mandatsanfrage das Stichwort «unentgeltliche Rechtsvertretung» fällt. Die Vertretung mittelloser Personen verbleibt somit denjenigen Anwält:innen, die bereit sind, wortwörtlich unentgeltlich tätig zu sein oder in solchen Mandaten nicht die nötige und mögliche Sorgfalt, sondern nur das kleinstmögliche Engagement an den Tag zu legen. Das dürfte nicht das Ziel der Verfassungsgeberin gewesen sein, als sie allen Personen den Zugang zum Recht versprach.

Urteil des Bundesgerichts 4A_171/2022 vom 23. August 2022