Keine Invalidität heisst nicht keine Erwerbsunfähigkeit: Augen auf beim AVB-Studium!

30. März 2022

Ein Klient wandte sich an uns, weil ihm die Rechtsschutzversicherung mitteilte, ein Vorgehen gegen seine Erwerbsunfähigkeitsversicherung werde als aussichtslos angesehen. Begründet wurde dies damit, dass gemäss Abklärungen der eidgenössischen Invalidenversicherung lediglich ein IV-Grad von 8% resultiere. Gemäss AVB der entsprechenden Erwerbsunfähigkeitsversicherung müsse jedoch ein Grad der Erwerbsunfähigkeit im Umfang von mindestens 25% vorliegen, damit eine Leistungspflicht der Versicherung bestehe. Die Erwerbsunfähigkeit werde anhand der AVB der Erwerbsunfähigkeitsversicherung «sehr ähnlich» wie bei der Invalidenversicherung bestimmt.

«Sehr ähnlich» bedeutet in diesem, wie übrigens in der überwiegenden Mehrheit aller Fälle von Erwerbsunfähigkeitsversicherungen, jedoch nicht «gleich». Fast immer wird die Erwerbsunfähigkeit in den jeweiligen AVB der Versicherungsunternehmen nämlich nicht analog der Invalidenversicherung bestimmt. So wird in der Regel nicht auf den theoretischen ausgeglichenen Arbeitsmarkt und die berühmt-berüchtigten LSE-Tabellen, sondern auf die realen Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt abgestellt. Häufig basiert der für die Berechnung des Valideneinkommens herangezogene Lohn auch auf dem Lohn vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit, während die gesetzliche Invalidenversicherung den hypothetischen Verdienst zum Zeitpunkt der Berechnung des IV-Grades als Vergleichsgrösse heranzieht.

In der vorliegend relevanten Konstellation definierte die Versicherung die Erwerbsunfähigkeit nicht wie die gesetzliche Invalidenversicherung anhand des hypothetischen Valideneinkommens, sondern «anhand desjenigen Einkommens, welches die versicherte Person vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit erzielt hatte». Ohne Eintritt der Invalidität wäre unser Klient gemäss Abklärungsergebnis der IV nach Asien ausgewandert und hätte dort hypothetisch nur ein sehr marginales Einkommen erwirtschaftet. Auf dieser Vergleichsbasis ergab sich dann trotz gutachterlich attestierter Arbeitsunfähigkeit von über 50% kein rentenbegründender Invaliditätsgrad.

Stellt man jedoch für das Valideneinkommen, wie dies die AVB der Erwerbsunfähigkeitsversicherung vorsahen, auf das vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit erzielte Einkommen ab, ergab sich ein erheblicher Erwerbsunfähigkeitsgrad von über 50%. Unter zusätzlicher Berücksichtigung der Tatsache, dass die Arbeitsfähigkeit in einer Vergleichstätigkeit und die entsprechenden realen Verdienstmöglichkeiten in dieser Tätigkeit von der Versicherung zu beweisen wären (Art. 8 ZGB; vgl. dazu unseren Newsletter vom 28.11.2018), ergab sich eine Leistungspflicht der Erwerbsunfähigkeitsversicherung in beachtlichem Umfang.

Es lohnt sich also (auch und gerade) bei Erwerbsunfähigkeitsversicherungen sehr, die AVB ganz genau zu studieren und darauf zu achten, wie die Erwerbsunfähigkeit definiert ist. Nur weil die gesetzliche Invalidenversicherung keinen relevanten IV-Grad berechnet und keine Rente zuspricht, bedeutet dies noch lange nicht, dass auch eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung nicht leistungspflichtig ist.