IVG- und VVG-Revision: Grössere und kleinere Verbesserungen für Versicherte
15. Juli 2020
In den letzten Jahren wurde immer wieder über gravierende Missstände anlässlich von Begutachtungen berichtet. In der kürzlichen Sommersession hat das Parlament mit der Änderung des Gesetzes über die Invalidenversicherung nun unter anderem Art. 44 ATSG angepasst. Gleichzeitig wurde auch die Revision des Gesetzes über den Versicherungsvertrag beschlossen. Beide Vorlagen enthalten gegenüber der aktuellen Rechtslage diverse Neuerungen.
Von Begutachtungsgesprächen in Sozialversicherungen (z.B. Invalidenversicherung oder Unfallversicherung) wird neu eine Tonaufnahme erstellt, sofern die versicherte Person nicht darauf verzichtet (Art. 44 Abs. 6 nATSG). Damit werden die Dokumentation und der Beweis von mangelhaften Begutachtungen deutlich erleichtert. Ebenso zu begrüssen ist, dass die Invalidenversicherung neu eine Statistik über ihre Gutachter führen muss (Art. 57 Abs. 1 lit. n nIVG). Darin soll erstmals systematisch erfasst werden, wie viele Aufträge jeder Gutachter erhält und, besonders interessant, zu welchen Ergebnissen er jeweils kommt. Gewisse Gutachter erhalten bekanntlich sehr viele Aufträge seitens der Versicherungen – nun wird sich zeigen, wie ihre Beliebtheit mit den gelieferten Resultaten zusammenhängt. Zusätzlich soll eine breit abgestützte Kommission eingesetzt werden, um zur Qualität der Begutachtungen «Empfehlungen» abzugeben (Art. 44 Abs. 7 lit. c nATSG). Obwohl schadenanwaelte in einem Fachbeitrag zur Unabhängigkeit und Qualität von medizinischen Gutachten in vielen Punkten eine griffigere Regelung vorgeschlagen hatte, stellen diese Neuerungen wichtige Schritte in die richtige Richtung dar (vgl. auch RA Rainer Deecke im Blick vom 24.11.2019).
Die Revision des Gesetzes über den Versicherungsvertrag war eine regelrechte parlamentarische Irrfahrt. Ursprünglich war 2011 eine komplette Überarbeitung des über hunderjährigen VVG geplant, um insbesondere die Versicherten als regelmässig schwächere Vertragspartei zu stärken und zahlreiche nicht mehr zeitgemässe Regelungen anzupassen. Das Parlament beendete dieses Projekt unter dem Einfluss der entsprechenden Lobby allerdings zwei Jahre später, begründet mit dem Verzicht auf «unnötige Regulierungen» und den «Schutz der Vertragsfreiheit». Übrig blieb nur der Auftrag, eine Teiländerung in wenigen Punkten zu entwerfen. Die daraufhin 2017 vorgestellte Vorlage zielte komplett in eine andere Richtung als die ursprüngliche Konzeption.
Es fielen daraufhin Bezeichnungen wie ein «Kniefall vor der Versicherungslobby», mit welchem die Rechte der Versicherten in zahlreichen Punkten deutlich geschwächt worden seien. Unter einem Hagel von Kritik an den Vorschlägen schwenkte der Nationalrat Mitte 2019 um und ersetzte zahlreiche der umstrittenen Punkte mit faireren Regeln. Ein halbes Jahr später warf der Ständerat verschiedene Verbesserungen für die Versicherten ganz im Sinne der Versicherungswirtschaft wieder aus dem Entwurf heraus. Es folgte ein Ping-Pong über mehrere Runden zwischen den Räten. Am Ende konnten wenigstens einige der Anpassungen zu Gunsten der Versicherten in das Gesetz «gerettet» werden. Neu gibt es unter anderem ein Widerrufsrecht bei Vertragsschluss (Art. 2a f. nVVG), die Möglichkeit der Rückwärtsversicherung z.B. bei bereits bestehenden Krankheiten (Art. 10 nVVG), einen Kündigungsschutz in der Krankenzusatzversicherung (Art. 35a Abs. 4 nVVG), das direkte Forderungsrecht in der Haftpflichtversicherung (Art. 60 Abs. 1bis nVVG) sowie eine Verlängerung der Verjährungsfrist von zwei auf fünf Jahre (Art. 46 nVVG, mit Ausnahme der kollektiven Krankentaggeldversicherung, für die als unsinnige Sonderregelung weiterhin die bisherige zweijährige Frist gilt).