IV rechnet falsch: Renten sind seit Jahren zu tief

Andres Eberhard / 1.12.2021 Seit Jahren sind viele IV-Renten zu tief. Die fehlerhafte Berechnung führt ausserdem zu Ablehnungen. Der Bundesrat hält daran fest.

Im Prinzip sind sich alle einig: Viele IV-Renten sind hierzulande zu tief. Der Grund: In der Berechnung gehen die IV-Stellen und das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) fälschlicherweise davon aus, dass Invalide gleich viel verdienen können wie Gesunde (siehe Kasten am Ende des Artikels). Dass dem nicht so ist, belegt eine unabhängige Untersuchung: Kranke beziehen zwischen 10 und 20 Prozent weniger Lohn. Wegen dieses Rechenfehlers sind nicht nur viele Teilrenten zu tief. Auch werden zahlreiche Rentengesuche abgelehnt, die auf der Kippe stehen, da die Betroffenen noch Teilzeit arbeiten können.

Diesen Fehler hätte der Bund im Rahmen der aktuellen Reform der Invalidenversicherung beheben können. Vor einem Jahr hatte das Parlament die «Weiterentwicklung der IV» beschlossen. Im Fokus der Öffentlichkeit stand der Skandal um medizinische Gutachterinnen und Gutachter, die Millionen kassierten, indem sie Kranke gesund schrieben – zumindest finanziell im Sinne der Versicherung, die seit zwei Jahrzehnten unter massivem Spardruck steht. Die Beratungen in Bern schienen für Betroffene und ihre Vertreter eine Art Happy End zu markieren: Das Parlament beschloss, dem Gutachterunwesen mit mehr Transparenz und Aufsicht durch eine unabhängige Kommission einen Riegel vorzuschieben.

Doch dann machte sich das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) von Alain Berset an die Feinarbeit. Als der Bundesrat am 3. November schliesslich die Verordnung präsentierte, die per Anfang 2022 in Kraft tritt, war es vorbei mit der Freude bei Betroffenenvertretern und Behindertenorganisationen. Denn der Bund teilte mit, dass die Höhe der IV-Renten in Zukunft gleich berechnet wird wie bis anhin. Dabei hatten in der Vernehmlassung fast alle, die sich zu diesem Punkt äusserten, eine Korrektur gefordert, und zwar quer durch alle Lager: Von der SP bis zur SVP, von den Kantonen Zug bis Genf, von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) bis hin zu Gewerkschaften. 

Untätigkeit beim BSV – geht es ums Geld?

Dass der Bund trotz dieser breit abgestützten Kritik nichts veränderte, können Fachleute kaum glauben. «Die jetzige Berechnungsmethode ist schlicht und einfach unhaltbar», sagt Rainer Deecke, Anwalt und Präsident des Vereins Versicherte Schweiz auf Anfrage. Und Michael E. Meier, Experte für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht der Universität Zürich, sagt: «Ehrlich gesagt bin ich etwas konsterniert. Da frage ich mich, warum überhaupt eine Vernehmlassung statt gefunden hat.»

Warum er am Status Quo festhält, erklärte der Bundesrat weder in der Medienmitteilung noch in den dazugehörigen Hintergrunddokumenten. Er versprach lediglich vage, dass das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Alternativen prüfen werde.

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