IV-Gutachter sind Beamte
15. April 2020
Verschiedene Strafbehörden sehen sich mit Strafanzeigen gegen Gutachter wegen Urkundenfälschung und falschen ärztlichen Zeugnissen konfrontiert. Im Verfahren gegen verschiedene Ärzte der PMEDA und deren Inhaber Prof. Dr. Henning Mast, welche durch die IV-Stellen beauftragt waren, gehen die Zürcherischen Staatsanwaltschaften davon aus, dass es sich dabei um Amtsdelikte handelt.
Sie gelangten deshalb an das Zürcher Obergericht, um eine Ermächtigung zur Durchführung einer Strafuntersuchung wegen Urkundenfälschung im Amt und weiterer Delikte zu erwirken.
Nachdem das Obergericht in einem Fall auf das Gesuch nicht eintrat und die Sache an die Anklagekammer des Kantons St. Gallen überwies, weil der Auftrag von der IV-Stelle des Kantons St. Gallen erteilt worden sei, hat das Bundesgericht nun klärend eingegriffen:
Es bejaht im Urteil 1C_506/2019 vom 28. Februar 2020 die beamtenähnliche Stellung des beschuldigten Gutachters, der von der IV-Stelle mit einer medizinischen Begutachtung beauftragt wurde, weil eine solche Begutachtung eine öffentlichrechtliche Aufgabe sei (Erw. 2). Indessen handle es sich bei sämtlichen Erlassen, welche die Gesetzgebung zur Invalidenversicherung beträfen, um Bundesrecht, weshalb der Beschuldigte im Rahmen der Erstellung des Gutachtens für die IV-Stelle die Funktion, vergleichbar jener eines Bundesbeamten, innehatte (Erw. 3 u. 4). Abstellend darauf hat das Bundesgericht das Ermächtigungsgesuch der Staatsanwaltschaft dem EJPD zur Beurteilung unterbreitet. In einem weiteren Verfahren gegen denselben Beschuldigten verfährt das Obergericht entsprechend (Beschluss vom 30. März 2020).
Von Bedeutung ist die Beamtenstellung in erster Linie für das Strafrecht: Die Urkundenfälschung im Amt (Art. 317 Ziff. 2 StGB) ist, anders als die gewöhnliche Urkundenfälschung, auch fahrlässig strafbar. Zudem gilt ein höheres Strafmass und es gelten längere Verjährungsfristen als bei einer Bestrafung wegen falschem ärztlichem Zeugnis (gemäss Art. 318 StGB).
Aber auch über das Strafrecht hinaus und generell mit Blick auf das Verhältnis zwischen der versicherten Person und dem Gutachter hat die beamtenähnliche Funktion des Gutachters verschiedene Folgen:
Das Aufnehmen der Gespräche mit den Gutachtern dürfte der versicherten Person erlaubt sein, da der Schutz von Gesprächen gemäss Art. 179ter StGB nämlich nur gilt, wenn es sich um Äusserungen im privaten Bereich handelt. Ein aus öffentlichrechtlicher Verpflichtung geführtes Gespräch fällt nicht in die Privatsphäre der Gesprächsteilnehmer, da diese durch die Aufnahme nicht in ihrer „persönlichen Freiheit in der Mitteilung an andere“ beeinträchtigt sind (vgl. BGE 108 IV 161, vgl. auch BGer 6B_925/2018). Immerhin sieht der aktuelle Stand des Entwurfs in Art. 44 Abs. 5bis E-ATSG eine ausdrückliche «Protokollierung» des Interviews zwischen dem Versicherten und dem Sachverständigen vor, worunter die Aufnahme auf einen Tonträger verstanden wird (vgl. Soluna Girón, Art. 44 E-ATSG – die Chance nutzen!, in: Jusletter vom 16. September 2019).
An die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit eines beamtenähnlichen Gutachters sind höhere Anforderungen zu stellen. Es gelten die Ausstandsgründe gemäss Art. 10 VwVG. Auch wenn der Wortlaut praktisch identisch ist mit jenem von Art. 36 ATSG, so gilt ein Beamter generell rascher als befangen wie ein Privater. Dies ergibt sich aus seiner speziellen Stellung und personalrechtlichen Funktion, welche etwa entgeltliche Arbeit für Dritte und Nebenbeschäftigungen an strenge Anforderungen knüpft oder den Bamten zur Strafanzeige verpflichtet (bspw. Falschbegutachtung durch Neben- oder Vorgutachter). Tritt derselbe Gutachter für Private oder private Versicherungen auf, so könnte dies den Anschein der Parteilichkeit erwecken. Er hat gegenüber dem Auftraggeber sämtliche Interessen (und dabei insbesondere die Tätigkeit für andere Auftraggeber) offen zu legen.
Der beamtete Gutachter wird rechenschaftspflichtig gegenüber der Aufsichtsbehörde, dem Bundesamt für Sozialversicherungen. Die Erfüllung der öffentlichrechtlichen Aufgabe ist angemessen zu dokumentieren. Es ist Auskunft zu geben über jene Kriterien, welche zentral für die Zusprechung oder Abweisung von Versicherungsleistungen sind. Die gutachterliche Tätigkeit ist durch die Aufsichtsbehörde regelmässig zu prüfen.
Die Einsichtsrechte in die Tätigkeiten des beamteten medizinischen Gutachters sind zu gewähren. Zufolge seiner Sonderstellung besteht ein öffentliches Interesse an der unabhängigen Aufgabenerfüllung. Jede Person und namentlich Versicherte haben Anspruch auf Einsicht in die Tätigkeit und somit in die einzelnen anonymisierten Gutachten. Ein solcher Anspruch ergibt sich bereits gemäss Art. 2 lit. a des Öffentlichkeitsgesetzes (BGÖ), weil der Gutachter zum «Verwaltungsträger» wird, unabhängig von seiner verwaltungsorganisatorischen Einordnung. Im Übrigen fällt seine Tätigkeit als Hilfsperson der verfügenden IV-Stellen auch unter Art. 2 lit. b BGÖ.
Schliesslich wäre aufgrund der beamtenähnlichen Funktion des medizinischen Gutachters auch verpönt, würde er, neben der regulären Abgeltung für seine Tätigkeit, (etwa als Inhaber einer Gutachterstelle) zusätzlich aus seiner Aufgabenerfüllung noch Gewinne erzielen.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die Sozialversicherungsträger, die Gerichte und insbesondere die Gutachter selbst der Verantwortung letzterer als Quasi-Beamte bewusst werden.
Urteil des Bundesgerichts vom 28. Februar 2020
Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 30. März 2020