Gericht streicht „leidensbedingten Abzug“ – was ist das überhaupt?
28. November 2018
Leidensbedingter Abzug – unter diesem Begriff wird sich ausser Sozialversicherungsexperten wohl kaum jemand etwas vorstellen können. Worum geht es hier also?
Ausgangspunkt ist ein konkreter IV-Fall. Die IV-Stelle sprach einem Versicherten, der zuvor körperlich schwere Arbeit verrichtet hatte, aufgrund von Rückenleiden eine halbe Rente zu. Gegen diesen Entscheid erhob die Pensionskasse Beschwerde an das Sozialversicherungsgericht. Dies aus dem Grund, dass die Pensionskasse grundsätzlich ergänzend zur IV ebenfalls eine halbe Rente hätte auszahlen müssen.
Das Sozialversicherungsgericht verwarf die Hauptvorwürfe der Pensionskasse und stellte fest, dass der Versicherte die Schmerzen weder übertreibe oder gar vortäusche. Ebenso sei es wirklich zu einer gesundheitlichen Verschlechterung gekommen und der Fall sei medizinisch klar, weshalb keine neuen medizinischen Untersuchungen nötig seien. Die Beschwerde wurde also grösstenteils abgewiesen – im Urteil aber schliesslich doch nur noch eine Viertelsrente zugesprochen. Wie war das möglich?
Hintergrund dieses Entscheids ist, dass die IV-Stelle bei der Rentenberechnung einen sogenannten „leidensbedingten Abzug“ von 10% einsetzte, das Sozialversicherungsgericht diesen aber gestrichen hat. Um zu erklären, was es mit diesem Abzug auf sich hat, muss zunächst ein wenig ausgeholt werden:
In der IV wird der Invaliditätsgrad und damit auch die Höhe der Rente grundsätzlich mit einem Einkommensvergleich berechnet. Dabei wird das Einkommen, das man bei voller Gesundheit erzielt hat bzw. weiter erzielen könnte (Valideneinkommen), mit dem Einkommen verglichen, das man aktuell mit den vorhandenen Beschwerden noch erzielt (Invalideneinkommen). Der prozentuale Unterschied ergibt den Invaliditätsgrad. Viele Personen verlieren allerdings nach Eintritt der gesundheitlichen Probleme ihre Arbeit und finden danach im ersten Arbeitsmarkt keine neue Stelle; nicht zuletzt, weil die Anstellung von gesundheitlich eingeschränkten Personen für Arbeitgeber wenig attraktiv und damit das Motto „Eingliederung vor Rente“ nach wie vor mehr Wunschtraum als wirtschaftliche Realität ist. Bei diesen Personen wird das Invalideneinkommen daher nicht real bestimmt, sondern anhand der amtlichen Statistik über die Lohnstruktur in der Schweiz (LSE) festgelegt. Dort finden sich allerlei Lohn-Angaben nach Branche, Beruf, Geschlecht, Region usw.
Allerdings gibt die LSE natürlich grösstenteils Durchschnittswerte wieder. Die Löhne in der Haupttabelle, die nur nach Branchen unterscheidet, widerspiegeln den Lohn, den eine durchschnittliche, also eine gesunde, Person verdient. Die Löhne beinhalten auch innerhalb der Branchen verschiedene Arbeiten, die teilweise wie z.B. körperlich schwere Tätigkeiten im Vergleich zu ähnlichen, aber leichten Tätigkeiten gut bezahlt sind. Ebenso setzt diese Zahl ein durchschnittliches Pensum, bei Männern beispielsweise regelmässig 100%, voraus. Weiter basiert der Tabellenlohn auf einer durchschnittlichen Anzahl Dienstjahre in einem Betrieb, die lohnerhöhend wirken. In Bezug auf diese Punkte wie auch weitere Faktoren wie Staatsangehörigkeit/Niederlassungsbewilligung etc. macht die Tabelle keine feineren Unterscheidungen.
Man kann sich gut vorstellen, dass eine Person, die nur noch gewisse Arbeiten, vielleicht noch mit besonderen gesundheitlichen Einschränkungen und nur noch in Teilzeit, ausführen kann, Mühe hat, auf dem freien Arbeitsmarkt einen solchen Durchschnittslohn zu erhalten. Sie ist im Vergleich zu den gesunden Mitbewerbern benachteiligt und muss daher regelmässig Abstriche beim Lohn machen. Diesen Gedanken hat auch das Bundesgericht anerkannt und daher den sogenannten „leidensbedingten Abzug“ von bis zu 25% des statistischen Lohnes eingeführt. Damit soll genau diesem Nachteil Rechnung getragen und das Invalideneinkommen realistischer bestimmt werden.
Der Versicherte in unserem Fall arbeitete vor den gesundheitlichen Problemen Vollzeit in einem körperlich schweren Beruf. Heute kann er nur noch zu 60% in einer leichten, wechselbelastenden Tätigkeit arbeiten und muss zudem gewisse medizinische Vorsichtsmassnahmen, besonders Vermeidung von höheren Lärmbelastungen, bei der Arbeit beachten. Aus diesem Grund setzte die IV bei der Rentenberechnung einen Abzug von 10% ein. Das Sozialversicherungsgericht dagegen entschied, die Vorsichtsmassnahmen seien unbedeutend und der Versicherte könne trotz der Einschränkungen problemlos ein normales Einkommen erzielen. Deshalb sei kein Abzug vom statistischen Lohn abzunehmen und die Rente tiefer anzusetzen.
Gegen diese Berechnung hat der Versicherte Beschwerde erhoben, womit der Fall aktuell beim Bundesgericht liegt. Das Gericht darf in solchen Fällen den Abzug der IV nur aus guten Gründen durch einen anderen Abzug ersetzen oder davon absehen. Da allein schon das maximale Pensum von 60% statistisch bei Männern zu einem um 5% unterproportionalen Lohn führt, fällt es schwer, hier einen solchen Grund zu sehen. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass leichte und bloss wechselbelastende Arbeiten im Bereich von einfachen Tätigkeiten oftmals schlechter bezahlt werden als entsprechende körperlich stark belastende Arbeiten – oder für den Umstand dass jemand, der zeitlebens mit wenig Ausbildung solche schweren Arbeiten verrichtet hat, gesundheitsbedingt nun in einem anderen Bereich ohne Ausbildung und Berufserfahrung eine Stelle suchen muss und daher auch diesbezüglich wenig Verhandlungsmacht in Sachen Lohn hat. Es ist zu hoffen, dass das Bundesgericht hier korrigierend eingreift und mithilft, die realen Verdienstaussichten dieses Versicherten einigermassen realistisch und damit auch fair zu beurteilen.
Urteil Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vom 28. September 2018 (nicht rechtskräftig)
RA Soluna Giron