«Freispruch» vom Vorwurf der Aggravation: Die Beeinträchtigungen einer dissoziativen Störung müssen sorgfältig abgeklärt werden

15. Januar 2020

Unserem Klienten wurde von der IV-Stelle und später vom kantonalen Gericht Aggravation vorgeworfen, d.h. eine Übertreibung oder Ausweitung von Beschwerden, indem tatsächlich vorhandene Symptome im Hinblick auf die Erlangung von Rentenleistungen verstärkt werden. Ein Aggravationsvorwurf hat einschneidende Folgen: Ein Rentenanspruch und auch berufliche Massnahmen sind ausgeschlossen.

Aggravation darf deshalb nicht leichthin angenommen werden, sondern bedarf einer sorgfältigen Prüfung auf möglichst breiter Beobachtungsbasis auch in zeitlicher Hinsicht.

Ob Aggravation vorliegt, hat grundsätzlich (zuerst) der psychiatrische Facharzt zu beurteilen, der die versicherte Person persönlich untersucht hat und Kenntnis der Vorakten hat. Im konkreten Fall verbieten dessen Ausführungen die Annahme von Aggravation. So bemerkte der Spezialist zwar Auffälligkeiten im Verhalten, hielt jedoch fest, dass das Vorhandensein einer dissoziativen Störung im Gesamtkontext überwiegend wahrscheinlich sei, während das Vorhandensein einer Simulation lediglich möglich erscheine. Das kantonale Gericht erwähnte diese Äusserungen nicht, geschweige denn würdigte es diese, was vom Bundesgericht kritisiert wird.

Auch wo Hinweise auf Aggravation bestehen, hat eine vertiefte Prüfung hinsichtlich der funktionellen Beeinträchtigung der Störung zu erfolgen. Das kantonale Gericht ignorierte dabei zahlreiche massgebende Aspekte wie den „Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz“, die „Komorbiditäten“, die „Persönlichkeitsdiagnostik und persönliche Ressourcen“ sowie den „Leidensdruck“, was das Bundesgericht nicht zulässt: Auf Beschwerde von schadenanwaelte hebt es den kantonalen Entscheid auf und verpflichtet das kantonale Gericht, ein Gerichtsgutachten einzuholen.

Bundesgerichtsurteil 9C_520/2019 vom 22.10.2019