Fair(er)e Bemessung der Invaliditätsgrade ab dem neuen Jahr?
19. Dezember 2023
Wer die parlamentarische Motion 22.3377 «Invaliditätskonforme Tabellenlöhne bei der Berechnung des IV-Grads» verfolgt hat, weiss spätestens seit Oktober diesen Jahres: es soll endlich einen kleinen Lichtblick am Horizont der zu hohen Tabellenlöhne geben. Am 1.1.2024 tritt die neue Fassung des Art. 26bis Abs. 3 IVV in Kraft, womit ein Pauschalabzug von 10% für alle statistisch ermittelten Invalideneinkommen eingeführt wird. Doch ist diese neue Regelung wirklich fair(er)?
Zum Hintergrund: Erzielt jemand im Invaliditätsfall kein Erwerbseinkommen oder ein solches, das unter der zumutbaren Resterwerbsfähigkeit liegt, werden in der Praxis die statistischen Werte gemäss der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) zur Berechnung des Invaliditätsgrades herangezogen. So weit so gut. Nun basieren diese statistischen Werte jedoch nicht nur auf den Einkommen, welche eine behinderte Person erzielen kann, sondern auch auf denjenigen von Personen ohne Behinderung, die regelmässig wesentlich höher sind. Was eine Person mit Behinderung auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt verdienen kann, ist damit wesentlich tiefer als die LSE Tabellen abbilden. Die für die Rentensprüche massgeblichen Invaliditätsgrade fallen damit regelmässig zu tief aus. Die Folge: Rentenansprüche werden abgelehnt oder die zugesprochenen Renten sind zu tief.
Mit dem neuen Pauschalabzug von 10% wird ab 1.1.2024 ein Korrektiv eingeführt, um die Einkommen von Personen mit Behinderungen besser abzubilden. Gelöst ist das Problem unserer Ansicht nach damit aber nicht, denn eine Studie des Büro Bass hat 2021 aufgezeigt, dass die LSE-Tabellenlöhne im Durschnitt um 15-17% zu hoch sind. Das nun eingeführte Korrektiv greift daher zu kurz. Unbefriedigend ist auch der Umstand, dass die neue Fassung des Art. 26bis Abs. 3 IVV neben dem neuen Pauschalabzug und dem 2022 eingeführten Abzug von 10% für Personen mit einer Restarbeitsfähigkeit von 50% und weniger keine weiteren Abzüge von den Tabellenlöhnen zulässt. Ob die neue Verordnungsbestimmung rechtmässig ist, wird gerichtlich zu überprüfen sein.
Der ab 1.1.2024 geltende Pauschalabzug von 10% ist auf alle laufenden Verfahren anwendbar, in denen das Invalideneinkommen mittels statistischen Werten bestimmt wird. In den abgeschlossenen Verfahren, in denen Renten zugesprochen wurden, müssen die IV-Stellen in den nächsten 3 Jahren eine Revision vornehmen und die Renten neu berechnen. Die Anpassungen werden die IV-Stellen von sich aus vornehmen, ohne dass die Rentenbezüger einen Antrag stellen müssen.
Wurde eine Rente in der Vergangenheit jedoch wegen eines zu tiefen Invaliditätsgrades abgelehnt, können die Betroffenen sich erneut bei der Invalidenversicherung anmelden, sofern glaubhaft gemacht werden kann, dass unter Berücksichtigung des Pauschalabzuges ein rentenbegründender Invaliditätsgrad resultiert. Dies wird vor allem bei denjenigen der Fall sein, deren Ansprüche bei einem Invaliditätsgrad von zwischen ca. 30 und 39% abgelehnt wurden. Wir raten allen Betroffenen sich neu anzumelden und in diesem Zusammenhang rechtliche Beratung in Anspruch zu nehmen.