Etappensieg gegen Milliardenkonzern
15. Juni 2022
Es handelt sich um den bisher teuersten Fall in der Geschichte der Medizinprodukte, der den US-Hersteller Johnson & Johnson weltweit schon mehrere Milliarden Dollar gekostet hat. J&J entwickelte die sog. ASR-Hüftprothese, die aufgrund eines – nach wie vor bestrittenen – Konstruktionsfehlers zu erhöhtem Metallabrieb führte, weshalb die Prothese in über 50 % der Fälle frühzeitig wieder explantiert werden musste. Nach rund zehn Jahren Verfahrensdauer konnte eine von schadenanwaelte vertretene Klägerin in der Schweiz nun einen wichtigen Etappensieg erzielen.
Zunächst kam ein erstinstanzlicher Berner Richter trotz der zahlreichen wieder zu explantierenden Prothesen zum Schluss, dass die Prothese nicht fehlerhaft im Sinne des Produkthaftpflichtgesetzes (PrHG) sei. Auch die Kausalität zwischen Produktefehler und Schaden sei nicht gegeben, obwohl der medizinische Haupt- wie der Obergutachter – beides führende Schweizer Hüftchirurgen – die Kausalität übereinstimmend bestätigt hatten. Nach mehr als neun Jahren Prozess vor der ersten Instanz wies der tüchtige Richter die Klage ab und verurteilte die Klägerin zu Gerichts- und Parteikostenersatz von über CHF 110’000.-.
Das Obergericht des Kantons Bern hat diesen Entscheid nach erhobener Berufung nun aufgehoben, die Fehlerhaftigkeit der Prothese bejaht und die Sache an die Vorinstanz zur weiteren Beurteilung zurückgewiesen. Der Entscheid ist rechtskräftig und enthält wichtige Hinweise für den Rechtsanwender zum Fehlerbegriff nach Art. 4 PrHG, aber auch zu Fragen der Beweisführung bzw. Beweislast betr. Art. 5 PrHG, was das Urteil richtungsweisend macht.
Der Fall ASR ist aber auch deshalb interessant, weil er seltene Einblicke in die firmeninternen Vorgänge von Produkteherstellern gewährt, die sich ab und zu zwischen der Gesundheit der Patienten und den Interessen ihrer Shareholder entscheiden müssen: warnen die Hersteller die Öffentlichkeit vor den Fehlern ihrer Produkte zu früh, verprellen sie ihre Aktionäre, warnen sie zu spät, opfern sie die Gesundheit ihrer Kunden. Der Fall deckt die Schwächen unseres Sicherheitssystems bei Medizinprodukten schonungslos auf und ist bei weitem kein Einzelfall: aktuell bearbeitet schadenanwaelte schon wieder einen Fall – hier im Bereich ORL – bei welchem der Hersteller aufgrund der Marktrückmeldungen zwar wusste, dass das Implantat fehlerhaft war, aber bis zu dessen «freiwilligen» Rückzug trotzdem so lange zugewartet hat, bis er für die neue Version desselben Produkts die Marktzulassung in den USA und Europa erhalten hat. To be continued …
Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 26. November 2021