Erwerbsersatz während Dienstpflicht – Glaubhafte Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und mangelhafte Information des BSV und der Ausgleichskassen
15. Dezember 2022
Viele Personen gehen nach dem Abschluss der Berufslehre oder der Matura ihrer Dienstpflicht nach. Während Personen mit abgeschlossener Berufsbildung nach Abschluss des Grunddienstes in den Genuss einer wesentlich höheren Bemessungsgrundlage für den Erwerbsersatz kommen, müssen sich Studenten in aller Regel mit dem Minimalansatz begnügen. Was jedoch kaum jemand weiss: Wer glaubhaft machen kann, dass er ohne Dienstpflicht einer beruflichen Tätigkeit nachgehen würde, wird auf Basis des entgangenen Lohnes in dieser Tätigkeit entschädigt. Das Bundesgericht hat in einem von schadenanwaelte erstrittenen Leitentscheid darauf hingewiesen, dass die kantonalen Ausgleichskassen und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verpflichtet sind, Anspruchsberechtigte zukünftig in ihren Formularen und Merkblättern auch über diese Möglichkeit zu informieren. Lesen Sie mehr im folgenden Beitrag:
Unser Klient schloss im Sommer 2017 seine Lehre mit Berufsmatura ab und begann im Winter 2018 die Rekrutenschule. Er beantragte bei der Ausgleichskasse, dass sein Erwerbsersatz nach Abschluss der Grundausbildung in Anwendung von Art. 1 Abs. 2 lit. b Erwerbsersatzverordnung (EOV) auf Basis des ihm entgangenen Lohnes berechnet würde. Die Ausgleichskasse lehnte dies ab, wobei der Entscheid auch vom Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen gestützt und erst durch das Bundesgericht im Urteil 9C_37/2022 vom 11. August 2022 (zur Publikation vorgesehen) umgestossen wurde.
Art. 1 Abs. 2 lit. b EOV sieht vor, dass Personen, welche glaubhaft machen, dass sie eine Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen hätten, wenn sie nicht eingerückt wären, in Anwendung von Art. 4 Abs. 2 EOV auf Grund des entgangenen Lohnes entschädigt werden. Die Vorinstanz führte aus, unser Klient sei in den sieben Monaten zwischen Abschluss der Ausbildung und Dienstantritt nicht erwerbstätig gewesen, obwohl er eine Stelle hätte antreten können. Es sei somit nicht glaubhaft, dass er ohne Militärdienst eine Erwerbstätigkeit längerer Dauer angenommen hätte. Das Bundesgericht erkannte dabei den Denkfehler der Vorinstanz beim Schluss vom tatsächlichen Verhalten auf das hypothetische Verhalten ohne bevorstehende Dienstpflicht: «Der von der Vorinstanz geforderte Nachweis einer konkreten Arbeitsgelegenheit setzt voraus, dass [der Dienstpflichtige] Grund zur Stellensuche hatte. […] In der Realität hatte er nach Abschluss seiner Ausbildung keine Möglichkeit, für die wenigen Monate bis zum Antritt des zweijährigen Militärdienstes ein längerfristiges Arbeitsverhältnis einzugehen».
Damit bestätigte das Bundesgericht erneut, dass keine allzu grossen Anforderungen an das Beweismass des Glaubhaftmachens zu stellen sind und dass eben gewisse Anhaltspunkte für die geltend gemachte rechtserhebliche Tatsache genügen.
Der zweite sehr bemerkenswerte Punkt in diesem Entscheid ist die in E. 4.5.2 ff. am Formular «EO-Anmeldung bei Militärdienst» sowie generell an der Information der Ausgleichskassen und des Bundes geäusserte Kritik. Im erwähnten Formular und im Merkblatt der AHV/IV (6.01 – Leistunden der EO, Stand 1. Januar 2019) werden zwar diverse Konstellationen erwähnt und erläutert, die Möglichkeit einer hypothetischen Erwerbsaufnahme wird hingegen nicht thematisiert und entsprechende Angaben im Erhebungsformular nicht erfragt. Von den Konstellationen, welche gemäss Art. 1 Abs. 2 EOV den Erwerbstätigen gleichgestellt werden, behandeln das Formular sowie das Merkblatt lediglich die Arbeitslosen. Auch die entsprechenden Berechnungsbeispiele basieren lediglich auf dem durchschnittlichen vordienstlichen Erwerbseinkommen und lassen die Möglichkeit einer hypothetischen Erwerbsaufnahme an Stelle des Dienstes aussen vor.
Es ist zu hoffen, dass die kantonalen Ausgleichskassen sowie die Informationsstelle AHV/IV des BSV nun ihrer Informationspflicht auch betreffend diese Konstellation nachkommen. Es ist nämlich damit zu rechnen, dass die unseren Klienten betreffende Konstellation auch eine Vielzahl weiterer Dienstpflichtige betrifft, welchen bisher der Ihnen tatsächlich zustehende Erwerbsersatz vorenthalten wurde. Dies entweder weil viel zu hohe Ansprüche an das Glaubhaftmachen gesetzt wurden oder aber, und dies dürfte noch häufiger sein, weil die betroffenen Personen gar nichts von ihrem Anspruch auf Berechnung des EO-Satzes aufgrund der hypothetischen Erwerbsaufnahme wussten.
Urteil des Bundesgerichts vom 11. August 2022 im Verfahren 9C_37/2022