Die Rückkehr der „Medi-Ritter“
20. Mai 2021
In einer Zeit, in der Juristinnen und Juristen immer mehr in die Kernbereiche der Medizin eindringen, tobt zeitgleich ein erbitterter Kampf zwischen Versicherungsmedizinern und behandelnden Ärzten. Im Newsletter vom November 2020 haben wir darüber berichtet, dass die Schweizerische Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (SGOT) in einem offenen Brief die versicherungsmedizinische Praxis zu Rotatorenmanschettenrupturen kritisiert und diese als falsch bezeichnet hat. In der Folge kam es zu einem heftigen medizinischen Diskurs.
Zunächst haben die Dres. Soltermann, Dubs, Brandenberg und Luchsinger einen «Schultertrauma-Check» im Medinfo 2021/1 veröffentlicht, welcher auf der Website des Schweizerischen Versicherungsverbands (SVV) heruntergeladen werden kann. In ihrem Artikel dazu setzen sich die Autoren unter anderem kritisch mit dem offenen Brief der SGOT auseinander. Sie weisen insbesondere darauf hin, dass bei der Auswertung angelsächsischer Literatur und Studien der Begriff «Tear» nicht mit dem in der Schweiz dominierenden Unfallbegriff gleichgesetzt werden kann.
Der «Schultertrauma-Check» hat anschliessend zu einem Schlagabtausch in der Schweizerischen Ärztezeitung geführt. Konkret kritisiert PD Dr. Nyffeler in einem Leserbrief die Schlussfolgerungen im «Schultertrauma-Check», denn es gäbe keine einzige Studie, welche belege, dass man sich bei einem Sturz keineRotatorenmanschettenruptur zuziehen könne. Die Schulterkompetenz der «Schultertauma-Check»-Autoren werde zudem angezweifelt, da diese nicht aus Schulterspezialisten bestehen. Aus all diesen Gründen dürfe der «Schultertrauma-Check» nicht verwendet werden.
Die Replik folgte postwendend. Dres. Soltermann, Dubs, Brandenberg und Luchsinger verweisen in einem Leserbrief nochmals auf die wissenschaftliche Literatur und den Umstand, wonach Studien oft unkritisch oder gar falsch zitiert würden. Der sog. Schulterexpertengruppe fehle die Expertise, wissenschaftliche Literatur kritisch zu würdigen. «Schulteroperateure unterliegen dem Risiko, Interessenvertreter zu sein, was bei pensionierten Knie- und -Hüftchirurgen, einem Hausarzt und dem Chefarzt des SVV [Anm.: Schweizerischer Versicherungsverband!] eher weniger der Fall ist», so die Autoren.
Nun hat sich in einer weiteren Stellungnahme die swiss orthopaedics in der Ärztezeitung zu Wort gemeldet: Der «Schultertrauma-Check» widerspreche der aktuellen Literatur in mehreren Punkten und wurde ohne Rücksprache mit der swiss orthopaedics ausgearbeitet. So sei es gemäss grossen Kohortenstudien hinreichend bekannt, dass degenerative Rotatorenmanschettenrupturen im Alter zwischen 40 – 50 eine Seltenheit seien (weniger als 11%). Demgegenüber sei im «Schultertrauma-Check» ein Alter ab 40 Jahren als Risikofaktor vermerkt. Im weiteren sei ein direktes Trauma gegen den Schultergürtel sehr wohl ein möglicher Schädigungsmechanismus der Rotatorenmanschette. Auch Stürze auf die Hand oder Ellbogen seien geeignet, die Rotatorenmanschette zu schädigen. Die gegenteilige Meinung im «Schultertrauma-Check» finde in der evidenzbasierten Literatur keine Stütze. Swiss orthopaedics distanziere sich in aller Form vom «Schultertrauma-Check» und empfehle dringend, diesen nicht zu verwenden für die Beurteilung versicherungsmedizinischer Fragestellungen.
Aus Geschädigtenperspektive ist es zu begrüssen, dass ein versicherungsmedizinischer Diskurs zwischen Medizinern stattfindet. Denn es kann nicht sein, dass die streng naturwissenschaftliche Frage der Unfallkausalität den Juristen überlassen wird. Es ist lobenswert, dass behandelnde Ärzte und die Fachgesellschaften sich bei versicherungsmedizinischen Themen vermehrt einmischen und einen Gegenpol zur Deutungshoheit des SVV und der Swiss Insurance Medicine (SIM) setzen. Oft sind behandelnde Ärzte bei Anfragen des Patienten kaum bereit, eine Aussage abzugeben und verweisen stattdessen darauf, dass dies eine «gutachterliche Aufgabe» sei. Dass kaum ein Patient allein schon aus finanziellen Gründen in der Lage ist, jeder vertrauensärztlichen Stellungnahme ein Gutachten entgegenzuhalten, scheint sich noch nicht überall herumgesprochen zu haben. Es bleibt zu hoffen, dass «die Rückkehr der Medi-Ritter» nachhaltig ist und sich auch andere Fachgesellschaften vermehrt kritisch äussern.
„Schultertrauma-Check“ Medinfo 2021/1
Leserbrief PD Dr. med. Richard W. Nyffeler et al. und Replik von Dr. med. Luzi Dubs et al.