Der Mut hat sich ausbezahlt: Grosse Schadenersatzzahlung nach Mobbing in einem Weltkonzern

15. März 2023

Frau Motarjemi erhält mehr als 11 Jahre nach ihrer Klage gegen Nestlé Recht. Nestlé muss ihr 2 Mio. Franken und zusätzlich 1 Mio. Zinsen bezahlen, weil sie die Gesundheit und Existenz der Angestellten zerstört hat. Das Kantonsgericht des Kantons Waadt (Cour d’appel civile) hat mit Entscheid vom 29. November 2022 die Klage zum zweiten Mal geschützt und dieses Mal verzichtet Nestlé auf einen Weiterzug des Urteils an das Bundesgericht.

Unverständlich ist, weshalb Nestlé erst jetzt einlenkt, nachdem das Kantonsgericht Waadt die Mobbingvorwürfe der Wissenschaftlerin schon in seinem Urteil vom 7. Januar 2020 gutgeheissen hat. Bereits in jenem Urteil wurde entschieden, dass die Vorgesetzten ihre Angestellte, welche verantwortlich für die Sicherheit der Nahrungsmittel von Nestlé weltweit war, während Jahren systematisch herabgesetzt und diskreditiert haben.

Die Odyssée eines solchen Gerichtsverfahrens und den Mut, den Frau Motarjemi aufgebracht hat, sich gegen den Weltkonzern zur Wehr zu setzen, soll hier kurz veranschaulicht werden:

Nachdem Frau Motarjemi per Ende 2010 gekündigt wurde, hat man ihr eine Abgangsentschädigung von CHF 300’000.- in Aussicht gestellt. Sie wollte aber nicht Geld, sondern Gerechtigkeit für die erlittene Schmach durch ihren Vorgesetzten Roland S. Sie wollte, dass die systematische Verhinderung ihres Einsatzes für die Nahrungsmittelsicherheit und ihre Schlechtbehandlung aufgedeckt und von unabhängiger Seite beurteilt werden.

Wer eine solche Klage erhebt, muss damit rechnen, dass der Konzern alle Mittel aufwenden wird, um die Klage zu ersticken. Zu beweisen, dass man gemobbt wurde und dass die psychische Erkrankung darauf zurückzuführen ist, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Hut ab auch vor dem Anwalt Bernard Katz, der das Mobbingopfer ermutigte, diese Klage einzureichen und der sie im Prozess während Jahren vertritt. Mutig ist auch Rechtsanwältin Mathilde Bessonnet, die gegen das Urteil der ersten Instanz (chambre patrimoniale cantonale de Lausanne), welches Frau H. CHF 835’000.- zusprach, Berufung einlegte, alles auf eine Karte setzte und nun für ihre Klientin und sich selbst den vollen Prozesserfolg beanspruchen kann.

Bis dahin war der Weg steinig und alles andere als erfolgsversprechend. Die Richter haben Nestlé CEO Paul Bulcke, den direkten Vorgesetzten von Frau Motarjemi, und verschiedene weitere Kadermitglieder in den Zeugenstand gerufen. Dagegen hat Nestlé vor mehreren Instanzen erfolglos opponiert. Die Zeugen haben sich aber dennoch sehr loyal zu ihrer Arbeitgeberin geäussert. Nestlé hat den Richtern auch ein Gutachten einer Beratungsfirma vorgelegt, welches ihr eine Good Governance attestierte und damit einen Persilschein ausstellte.

Das erstinstanzliche Gericht (chambre patrimoniale cantonale) hat denn die Klage von Frau H. in seinem ersten Urteil abgewiesen. Erst das Kantonsgericht hat in zweiter Instanz festgestellt, dass sie auf hinterhältige Weise gemobbt wurde. Es hat darin eine Verletzung der Persönlichkeit und eine Rücksichtslosigkeit gegenüber der Gesundheit der Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 328 des Obligationenrechts erkannt. Die Expertise der Beratungsfirma hat es als blosses «Scheingutachten» abgetan. Auf eine Beschwerde gegen das erste Urteil des Kantonsgerichts ist das Bundesgericht nicht eingetreten.

Somit war immerhin der Weg geöffnet, bei der unteren Instanz den finanziellen Schaden geltend zu machen. Aber wie oben erwähnt, bedurfte es auch hier eines weiteren Instanzenzuges, damit das Opfer in den Genuss des gesamten Erwerbsschadens bis zur Pensionierung und des Rentenausfalles von Seiten der Pensionskasse im Alter kam.

schadenanwaelte gratuliert Frau Motarjemi und ihren Anwälten zu diesem Erfolg. Wir anerkennen den grossen Mut und Einsatz und wir schätzen es sehr, dass die welschen Richter und ihre Gerichtspräsidentin mit diesem Leiturteil ihre Stärke und Unabhängigkeit gegen den grössten Steuerzahler des Kantons zeigten.

Das Urteil fördert den Gesundheitsschutz aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil es ernst macht mit dem Schutz der Persönlichkeit. Es betrifft nicht einzig die Mobbingopfer; es könnte den Weg ebnen für Klagen von langjährigen Mitarbeitern, denen nur wenige Jahre vor der Pensionierung gekündigt wird oder von solchen, die jahrelang gesundheitsschädigenden Einflüssen ausgesetzt waren, sei es durch Schadstoffe oder durch übermässige körperliche oder psychische Belastungen.

schadenanwaelte kämpft seit Jahrzehnten vor den schweizerischen Gerichten, damit die Asbestopfer und ihre Angehörigen endlich zu ihrem Recht gelangen. Die Opfer stehen schon zum zweiten Mal vor den Schranken des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strassburg. Es ist zu hoffen, dass dieser Entscheid auch Richterinnen und Richter aus anderen Kantonen und das Bundesgericht sensibilisiert oder gar inspiriert.

Urteil des Kantonsgerichts Waadt vom 29. November 2022