Das Bundesgericht verdammt die Invaliden ins Homeoffice
4. Februar 2021
… und dies auch in Zeiten ohne Pandemie!
Eine heute 50-jährige ehemalige Direktionsassistentin mit einer angeborenen Hüftgelenksdeformation stürzte im Jahre 2013 und leidet nun nach weiteren operativen Eingriffen an einem 17cm verkürzten Bein mit einer schweren Gehbehinderung, einem instabilen linken Bein und einer Hüftversteifung links. Weiter klagt sie über Rücken- und Hüftschmerzen und es hat sich bei ihr eine chronische Schmerzsymptomatik entwickelt. Zu einer Rente reichte es wegen einer neuen Begründung der Bundesrichter trotzdem nicht.
Gemäss Gutachter bestehe in der letzten Tätigkeit im administrativen Bereich sowie in den Leiden angepassten Tätigkeiten eine Arbeitsunfähigkeit von 40 %. Würden die Belastungen des Arbeitsweges entfallen und könnte sie von zuhause aus arbeiten, so wäre sie lediglich 20 % arbeitsunfähig. Die Psychiaterin, welche die Versicherte seit Jahren behandelt, attestiert ihr infolge einer mittelgradigen depressiven Störung und den zahlreichen psychosozialen Belastungsfaktoren eine volle Arbeitsunfähigkeit. Der psychiatrische Gutachter geht von einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und akzentuierten Persönlichkeitszügen aus, welche die Arbeitsfähigkeit indessen höchstens geringgradig einschränken würden.
Die Indikatoren, welche das Bundesgericht bei psychischen Störungen verlangt (vgl. BGE 141 V 281), seien indessen gemäss Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich nicht gegeben, weshalb offen bleiben dürfe, wie stark die Einschränkungen in beruflicher Hinsicht aus psychischer Sicht seien. Das kantonale Gericht stellt bei der Versicherten, welche in den letzten Jahren teilzeitig als selbständige Kartenleserin arbeitete, auf die Tabellenlöhne im administrativen Bereich ab und spricht ihr nach Massgabe einer Invalidität von 40 % eine Viertelsrente (das heisst monatlich je nach geleisteten Beiträgen zwischen minimal CHF 300.- bis maximal CHF 600.-) zu (Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kanton Zürich vom 14. November 2019).
Das Bundesgericht entzieht der Versicherten diese Rente aber wieder. Es stellt nämlich auf die gutachterlich festgestellte Arbeitsfähigkeit von 80 % im Homeoffice ab. Der Arbeitsmarkt sehe im kaufmännischen Bereich diverse Arbeitsstellen vor, welche grossmehrheitlich von zu Hause aus ausgeführt werden können. Die Arbeitsfähigkeit sei somit sehr wohl verwertbar. Ob es Homeoffice – Arbeitsplätze überhaupt gebe, prüft das Bundesgericht indessen nicht, weil es sich beim ausgeglichenen Arbeitsmarkt (bekanntlich) um eine rein theoretische Grösse handle.
Dieses Urteil bezieht sich auf Verhältnisse vor der Corona-Pandemie; es hat generelle Geltung und gilt somit ausdrücklich auch für die Zeit, wenn die Pandemie überwunden ist. Es weicht mit dieser neuen Praxis von verschiedenen kantonalen Entscheiden ab, welche feststellten, dass im administrativen, kaufmännischen Bereich eine Arbeitsfähigkeit nicht umsetzbar sei, weil es in der Schweiz keine Homeoffice – Stellen gebe (so auch das Kantonsgericht Luzern in seinem Entscheid vom 14. Juni 2019).
Invalide, welche keinen Arbeitsweg zurücklegen können und jene, die häufig Pausen einlegen oder sich tagsüber verschiedentlich hinlegen müssen; Psychisch Kranke, welche keinen Druck, Lärm, Stress oder Menschen ertragen; Schmerzpatienten, welche stundenweise schmerzgeplagt arbeitsunfähig sind wird nun vorgehalten, sie könnten ja im Homeoffice voll leistungsfähig sein, auch nachts oder an Wochenenden mal arbeiten, wie es eben der Gesundheitszustand gerade zulasse.
Ob die Einschränkung, mehrheitlich nur noch im Homeoffice arbeiten zu können, allenfalls einen Abzug vom Tabellenlohn rechtfertige, liess das Bundesgericht offen. Es ist zu befürchten, dass das Bundesgericht einen Abzug beim (hypothetischen) Invalideneinkommen nicht zulassen wird. Denn irgendwo gibt es bestimmt irgendwen, der im Homeoffice nämlich den gleichen Lohn erzielen kann wie andere im Büro. Ob ein Arbeitgeber Arbeitssuchende, die nur im Homeoffice arbeiten wollen, je einstellen wird, steht jedoch auf einem anderen Blatt.
Nachdem der weltweit ausgeglichenste Schweizer Arbeitsmarkt gemäss Bundesgericht für invalide Schwerarbeiter unbeschränkte Stellen als Parkplatz- oder Museumswärter, Empfangsmitarbeiter, Kontrolleure, Überwacher oder Lagermitarbeiter oder Magaziner (für leichte Arbeiten) anbietet, wird er nun auch für alle invaliden Kaufleute, Kaderleute und Mitarbeiter in der Administration reine Homeoffice-Arbeitsplätze zur Verfügung stellen.
Die Bundesrichter entrücken mit ihren theoretischen Gebilden, Grössen oder Indikatoren immer weiter der Realität. Die Leidtragenden sind die invaliden Berufsleute, denen die Leistungen der Invalidenversicherungen und der Pensionskassen zunehmend verwehrt bleiben und in der Realität der Sozialfürsorge landen.