Bundesrat auf Abwegen – Weiterentwicklung der Invalidenversicherung endet mit Verfassungsverstoss

30. März 2022

Mit der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung sollte auch die Rechtsprechung zu den Tabellenlohnabzügen vereinheitlicht und neu auf Verordnungsebene geregelt werden. Dieses Vorhaben darf als gescheitert betrachtet werden, da die Verordnung die bisherige Rechtsprechung nicht abbildet, sondern vielmehr ein neues Regelsystem einführt. Da damit der Auftrag des Gesetzgebers nicht umgesetzt, der Rahmen der Delegationsnorm gar gesprengt wurde, kann das Bundesgericht eine auf diese Vorordnung ergangene Verfügung wegen Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips nach Art. 164 BV aufheben.

Der Tabellenlohnabzug ist ein Instrument zur Bestimmung des Invaliditätsgrades. Steht die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität nicht in einem arbeitsvertraglichen Verhältnis und verfügt somit nicht über ein Lohneinkommen, wird das Invalideneinkommen mittels statistischer Werte, sog. Tabellenlöhne, bestimmt. Mit dem Abzug vom Tabellenlohn soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können und die versicherte Person deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann. In der Rechtspraxis haben sich diverse Kriterien herausgebildet, die einen Abzug rechtfertigen, z. B. Nationalität/Aufenthaltsstatus, Schuldbildung, Sprachkenntnisse, Alter, gesundheitsbedingte qualitative Anforderungen, Arbeitspensum. Diese Rechtsprechung stand bereits vor der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung seit Jahren in der Kritik.

Ungeachtet der Kritik sollte diese Rechtsprechung nach dem Willen des Gesetzgebers in die Verordnung gegossen werden (Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 15. Februar 2017, S. 2668). Dafür wurde eine Delegationsnorm ins Gesetz aufgenommen (Art. 28a IVG). Die Verordnung sieht aber lediglich ein Kriterium vor. Neu ist der Tabellenlohn um 10 Prozent zu reduzieren, wenn einer invaliden Person nur noch ein Arbeitspensum von 50 Prozent oder tiefer zumutbar ist (Art. 26bis Abs. 3 IVV). Die übrigen Kriterien sind in der Verordnung nicht genannt.

Der Verordnungsgeber begründet den Ausschluss der anderen, von der Rechtsprechung herausgebildeten Kriterien damit, dass die leidensbedingten Einschränkungen, das heisst jegliche durch die Invalidität bedingte quantitative und qualitative Einschränkungen bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, neu konsequent im Rahmen der Festlegung der verbleibenden funktionellen Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden sollen. Die übrigen personenbezogenen Merkmale, also diejenigen nichtmedizinischer Natur, werden nach Auffassung des Verordnungsgebers bei der Parallelisierung bereits berücksichtigt (Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, Hintergrunddokument vom 3. November 2021, Rentensystem und Invaliditätsgradbemessung, S. 3).

Der Systemwechsel, den der Bundesrat damit vollzogen hat, wird deutlich, wenn man sich die Rechtsprechung zur Parallelisierung vor Augen führt. Wer vor Eintritt der Invalidität unfreiwillig ein im Vergleich zum branchenüblichen Durchschnitt tieferes Einkommen erzielte, soll dafür bei der Bestimmung des Invaliditätsgrades einen Ausgleich erhalten. Denn es ist nicht anzunehmen, dass diese Person nach Eintritt der Invalidität das Medianeinkommen erzielen kann (BGE 135 V 297 E. 5.1). Eine Parallelisierung erfolgt jedoch erst ab einem Mindereinkommen von 5 Prozent und nur im Umfang des die 5 Prozent übersteigenden Teils (BGE 135 V 297 E. 6.3.1). Da die Gründe, die nach einer Parallelisierung verlangen – Schulbildung, Nationalität, Sprachkenntnisse etc. –, die gleichen sein können, welche einen Tabellenlohnabzug rechtfertigen, verbietet es die Rechtsprechung, diese bei der Parallelisierung und beim Tabellenlohnabzug, mithin zweimal, zu berücksichtigen (BGE 135 V 297 E. 6.2).

Das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV vertrat nun allerdings die Ansicht, dass diese Rechtsprechung auch dann zum Tragen kommen soll, wenn eine Parallelisierung nur abstrakt erfolgt, d. h. eine Parallelisierung geprüft, jedoch mangels Erheblichkeit der Einkommensdifferenz von 5 Prozent nicht durchgeführt werden darf (BGE 146 V 16 E. 5.3). Dieser Auffassung erteilte das Bundesgericht jedoch eine Absage. Es präzisierte, dass sämtliche lohnmindernde Faktoren berücksichtigt werden müssen, wenn keine Parallelisierung vorgenommen wird (BGE 146 V 16 E. 6.2.1).

Die Verordnung sieht nun vor, dass das Valideneinkommen mit 95 Prozent des branchenüblichen Medianlohnes gleichgesetzt wird, wenn das bisher erzielte Einkommen 5 Prozent oder mehr unter diesem lag. Die Gründe für das Mindereinkommen spielen keine Rolle mehr; es wird automatisch auf 95 Prozent parallelisiert. Gleichzeitig wird vermutet, dass damit den personenbezogenen nicht-medizinischen Abzugsfaktoren Rechnung getragen ist. Im Unterschied zur bisherigen Rechtsprechung ist eine Einzelfallprüfung nicht mehr möglich. So können Merkmale, die sich nach Eintritt der Invalidität gravierender auf die Lohnhöhe auswirken, nicht mehr geprüft werden. Der Systemwechsel offenbart sich bei Person, die ohne Invalidität ein branchenübliches Einkommen erzielen konnten. Diese können die von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Korrekturfaktoren nicht mehr anrufen, auch nicht über die Parallelisierung. Die Rechtsprechung zum Tabellenlohnabzug wird komplett ausgehebelt, da neben dem Teilzeitpensum keine Kriterien mehr Berücksichtigung finden können. Die Verordnung kodifiziert damit die vom Bundesgericht abgelehnte abstrakte Parallelisierung.

Wohlgemerkt gilt die neue Regelung nur im Bereich der Invalidenversicherung. Die bisherige Rechtsprechung zum Tabellenlohnabzug findet in der Unfallversicherung weiterhin Anwendung. Dies führt zum unhaltbaren Ergebnis, dass der Invaliditätsgrad in diesen Versicherungszweigen unterschiedlich bemessen wird. Eine unfallbedingte Schulterverletzung kann deshalb zu zwei verschiedenen Invaliditätsgraden führen. Auch dies spricht dafür, dass der vom Gesetz vorgegebene Delegationsrahmen offenkundig gesprengt ist.

Die Verordnung ist auch aus anderen rechtsstaatlichen Überlegungen abzulehnen. Ein erst kürzlich ergangenes statistisches Gutachten belegt, dass Invalide ein im Vergleich zum Medianlohn der Lohnstrukturerhebung tieferes Einkommen erzielen (Guggisberg/Schärrer/Bischof: «Nutzung von Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung» Fakten oder Fiktion – was sagen die Zahlen?, Bern 8. Januar 2021, S. 34). Die neue Regelung wird dieser Tatsache nicht gerecht; mithin wird dort nicht unterschieden, wo eine Unterscheidung geboten wäre. Die Regelung verstösst deshalb auch gegen das Willkürverbot.

Das Bundesgericht kann unselbständige Verordnungen des Bundesrates vorfrageweise auf ihre Gesetzes- und Verfassungsmässigkeit prüfen. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter Ermessensspielraum für die Regelung auf Verordnungsebene eingeräumt, so ist dieser Spielraum nach Art. 191 BV für das Bundesgericht verbindlich; es darf in diesem Falle bei der Überprüfung der Verordnung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrats setzen, sondern es beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Verordnung den Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen offensichtlich sprengt oder aus anderen Gründen gesetz- oder verfassungswidrig ist (BGE 131 II 13 E. 6.1).

Eine Verfügung der Invalidenversicherung, die sich auf die neue Verordnung stützt und den Invaliditätsgrad ohne Berücksichtigung personenbezogener Merkmale bemisst, kann deshalb vom Bundesgericht aufgehoben werden. Die Rechtsunsicherheit bei der Bemessung des Invaliditätsgrades wird somit auch in Zukunft bestehen bleiben. Da für den Rentenanspruch neu jeder Prozentpunkt massgebend sein wird, sind rechtliche Auseinandersetzungen vorprogrammiert.

Aus diesen Gründen ist Versicherten zu empfehlen, sich auch dann an einen Experten zu wenden, wenn der medizinische Sachverhalt unbestritten ist.