Blick 1.9.2019 Zwei St. Galler Ärzte kassierten für die IV Gutachten je 1.8 Millionen

Behindertenverbände und Versicherungsanwälte monieren, viele IV-Ärzte seien nicht unabhängig und würden ihre Gutachten nach dem Geschmack der Behörden ausstellen. Als Beweis machen sie publik, wie viel Geld einzelne IV-Ärzte für ihre Gutachten erhalten.

Die Gesundheitskommission des Ständerats diskutiert am Dienstag über die «Weiterentwicklung der IV». Aufs Tapet kommen dabei auch medizinische Gutachten, aufgrund derer entschieden wird, ob eine Person arbeitsfähig ist oder nicht. «Diese Gutachten sind matchentscheidend bei der Frage, ob jemand Leistungen der IV erhält oder nicht», sagt der Zuger Versicherungsanwalt Rainer Deecke (39).

Die konsultierten Ärzte werden direkt von den IV-Stellen bezahlt. Behindertenverbände und Versicherungsanwälte monieren deshalb, viele Gutachter seien nicht unabhängig. Einer dieser Kritiker ist der St. Galler Anwalt Ronald Pedergnana (57): «Gutachter, die im Sinne der IV ein Gutachten abfassen, kriegen wieder und massenhaft Aufträge. Andere werden nicht einmal berücksichtigt.»

Als Beleg führen die Gegner der heutigen Gutachter-Praxis ins Feld, dass einzelne Mediziner auffallend häufig IV-Gutachten ausstellen dürfen. Gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip verlangten sie in verschiedenen Kantonen entsprechende Auswertungen.

Ärzte in Abhängigkeit der IV-Stellen

Die aus Zürich gelieferten Zahlen sind besonders bemerkenswert: Zwischen 2012 und 2017 erhielt etwa die St. Galler Ärztin C. S.* von der Sozialversicherungsanstalt (SVA) des Kantons Aufträge im Wert von 1,86 Millionen Franken. Ihr Berufskollege T. W.*, ebenfalls mit Sitz in St. Gallen, hatte bei der SVA Zürich im gleichen Zeitraum ein Auftragsvolumen von 1,82 Millionen Franken.

Besteht bei einer solchen Fülle von Aufträgen nicht die Gefahr, dass die begünstigten Ärzte von den IV-Stellen abhängig werden und ihre Gutachten in deren Sinne ausfallen – also eher streng?

Das zuständige Bundesamt für ­Sozialversicherungen (BSV) sieht das nicht so – und betont, dass die kantonalen IV-Stellen in den letzten Jahren grosse Anstrengungen unternommen hätten, um die Verteilung möglichst ausgewogen vorzunehmen. BSV-Sprecher Harald Sohns: «Die IV-Stellen vergeben keine Aufträge an bestimmte Gutachter, weil diese die Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit strenger beurteilen. Das macht keinen Sinn, denn die Gutachten müssen bis vor das höchste Gericht Beweiskraft haben.»

Ärzte sollen der ganzen Schweiz Rechenschaft ablegen

Anwalt Rainer Deecke widerspricht: «Die Gutachter erfüllen beinahe richterliche Funktionen. Da den Gerichten das medizinische Fachwissen fehlt, kommt es in der Praxis äusserst selten vor, dass den IV-Gutachten der Beweiswert abgesprochen wird.» Deecke, neben seiner Tätigkeit als Anwalt auch Präsident von touché.ch, einer Patientenorganisation, die Menschen mit chronischen Schmerzen unterstützt, fordert deshalb, dass IV-Ärzte in Zukunft in der ganzen Schweiz Rechenschaft über ihre Gutachten ablegen müssen. «Es darf erwartet werden, dass nicht in der Dunkelkammer begutachtet wird.»

In einem Brief fordert er die Gesundheitskommission des Ständerats auf, dafür zu sorgen, dass die Daten zu den Resultaten der IV-Gutachten in Zukunft in der ganzen Schweiz transparent erhoben werden. «Andernfalls setzt sich die Behörde dem stetigen Verdacht aus, Gutachter ergebnisorientiert auszuwählen.»

Für den Kanton Basel-Stadt liegen die geforderten Informationen bereits vor, zumindest für das erste Halbjahr 2018. Bei der IV-Stelle waren in diesem Zeitraum 210 psychiatrische Gutachten eingegangen. Ein Viertel davon wurde von nur zwei Ärzten erstellt.

Nur in 24 beziehungsweise 26 Prozent ihrer Fälle konstatierten sie eine Arbeitsunfähigkeit von 40 Prozent oder mehr. Alle anderen Gutachter dagegen kamen im Schnitt bei 57 Prozent ­ihrer Gutachten auf eine Arbeitsunfähigkeit von 40 Prozent oder mehr. l* Namen bekannt.

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