Beobachter 6.12.2019 – Was hat die IV zu verbergen?
Fachleute kritisieren seit langem: Psychiatrische IV-Gutachter sind befangen, weil sie von der IV abhängig sind. Nun könnte das Parlament für etwas Transparenz sorgen.
Bei gewissen Gutachtern könne er bereits im Voraus sagen, was in ihren Berichten stehen wird, sagt der Zuger Patientenanwalt Rainer Deecke. Nämlich: «Dass der Patient nichts hat und keine relevante Arbeitsunfähigkeit vorliegt.»
Es gebe schwarze Schafe unter den Gutachtern der Invalidenversicherung. Das wisse jeder, der in diesem Bereich tätig sei. «Wenn sie selber betroffen wären, würde sich kein Versicherungsrichter und auch niemand von der IV freiwillig einer Begutachtung bei gewissen einschlägig bekannten Gutachtern unterziehen.»
Einige wenige Gutachter erhalten den Grossteil der IV-Aufträge, machte der «Sonntags-Blick» unlängst publik. 10 Prozent der Gutachter erstellen demnach 73 Prozent aller Expertisen. Bis zu drei Millionen Franken haben einzelne Psychiater in wenigen Jahren mit Gutachten verdient – und sind damit wirtschaftlich in hohem Mass von der IV abhängig.
Werden die Gutachter neutral ausgewählt?
Die IV wiederum hat ein grosses Interesse, wenig Renten zu sprechen, weil sie unter Spardruck steht. Da liegt die These nicht fern: Die Versicherung bevorzugt bei der Vergabe Gutachter, die tendenziell gegen die Versicherten und zugunsten der IV urteilen.
Beweisen lässt sich diese Vermutung allerdings bis heute nicht, denn es gibt keine Statistiken über die Vergabe der Aufträge und die jeweils attestierte Arbeitsunfähigkeit. Das Gutachterwesen ist für Aussenstehende eine Blackbox. Gespräche werden nicht protokolliert, niemand weiss, nach welchen Kriterien Aufträge vergeben werden. Versicherte sind den Experten ausgeliefert, und Anwälte haben kaum Möglichkeiten, Gutachten anzufechten.
Statistiken und aufgezeichnete Gespräche
Das soll sich zumindest teilweise ändern. Die Gesundheitskommissionen von National- und Ständerat verlangen, dass künftig wenigstens Statistiken geführt und die Gespräche aufgezeichnet werden sollen. Am 10. Dezember entscheidet das Parlament über diesen Vorstoss.
«Ich finde solche Statistiken unabdingbar», sagt Thomas Ihde, IV-Gutachter und psychiatrischer Chefarzt der Berner Oberländer Spitäler. «Transparenz hilft mir als Gutachter bei der Arbeit. Wenn ich merke, ich beurteile viel milder oder strenger als der Schnitt meiner Arbeitskollegen, muss ich über die Bücher.» Bislang sperre sich die IV gegen diese Transparenz. «Da frage ich mich schon: Was hat sie zu verbergen?»
3 Millionen Franken haben einzelne Psychiater in wenigen Jahren mit Gutachten verdient.
Manchmal entscheidet eine halbe Stunde über ein Leben. So kurz dauern manche Begutachtungen von Versicherten, die wegen Depressionen eine Invalidenrente beantragen. «Es gibt erhebliche Qualitätsunterschiede bei den Gutachten», kritisiert der Patientenanwalt Rainer Deecke. Der Fehler liege im System: Belohnt werde heute nicht der seriös arbeitende Experte, der sich Zeit nimmt und allenfalls mehrere Termine ansetzt. Sondern es würden jene Gutachter belohnt, die ihre Berichte mittels Copy-Paste-Verfahren erstellen und sich wenig Zeit für die Befragung nehmen.
«Die Zahlen in den Medien zeigen klar: Es gibt Psychiater, die als Gutachter bis zu fünfmal mehr verdienen, als wenn sie therapeutisch tätig wären», sagt Chefarzt Thomas Ihde. Wenn sie nur als Gutachter tätig seien, bestehe die Gefahr, dass sie den Bezug zur Realität von psychisch Erkrankten verlieren. «Das sind dann Gutachter, die die Latte für eine Arbeitsunfähigkeit enorm hoch ansetzen.»
Hinzu kommt: Wenn eine Expertise einmal erstellt ist, lässt sie sich kaum mehr anfechten. «Die Gerichte halten an der Fiktion fest, dass diese Gutachter neutral sind, obwohl viele von ihnen von der IV wirtschaftlich vollständig abhängig sind», sagt Anwalt Rainer Deecke. Die Justiz, das Bundesamt für Sozialversicherungen und das Parlament hätten jahrelang Augen und Ohren davor verschlossen und nichts unternommen, um das Problem anzugehen.
«Forderungen sind angemessen und verhältnismässig»
In der kommenden Wintersession wird das Parlament nun entscheiden, ob die Versicherten etwas mehr Transparenz erhalten. Eine Minderheit von FDP- und SVP-Nationalräten hat sich zwar gegen die Tonbandaufzeichnungen gestellt. Trotzdem ist alt FDP-Ständerat Joachim Eder zuversichtlich, dass die geplanten Änderungen durch das Parlament kommen werden. «Die Forderungen sind angemessen und verhältnismässig», sagt Eder, der bis Anfang Dezember Präsident der ständerätlichen Gesundheitskommission war.
Es sind allerdings nur Minimalforderungen, die im Parlament zur Debatte stehen. Fachleute fordern Massnahmen gegen willkürliche und einseitige Beurteilungen, die viel weiter gehen. «Ein erster Schritt wäre, die Aufträge nach dem Zufallsprinzip zu vergeben und eine Obergrenze pro Gutachter einzuführen», sagt Patientenanwalt Rainer Deecke.
Chefarzt Thomas Ihde, der auch als Präsident der Stiftung Pro Mente Sana wirkt, sieht die kantonalen psychiatrischen Dienste in der Pflicht. «Wir brauchen einen grösseren Pool an Experten.» Die IV halte an umstrittenen Gutachtern fest, weil es allgemein zu wenige gebe. «Öffentliche Dienste sollte man verpflichten, Gutachter zu stellen und auszubilden.» Auch Zweitgutachten würden die Verfahren fairer machen. «Wenn die Diskrepanz zwischen dem Urteil des behandelnden Arztes und dem des Gutachters zu gross ist, müsste es ein Zweitgutachten geben.»