Beobachter 2/21 „IV verharmlost schwere Krankheit“
Menschen mit chronischem Erschöpfungssyndrom werden von den IV-Gutachtern oft nicht ernst genommen. Ein Betroffener kämpft – zusammen mit dem Berner Inselspital.
Zehn Jahre leidet Rudolf Blatter schon am chronischen Erschöpfungssyndrom, CFS oder auch Myalgische Enzephalomyelitis genannt. Seither schält er Schicht für Schicht aus seinem Leben. Früher war er Sportler, engagierter Vater, Chef einer Spezialeinheit bei der Bundesverwaltung. Heute ist er nicht mehr viel. Ein 53-Jähriger, der gegen die IV kämpft. Mit dem letzten bisschen Kraft, das ihm noch bleibt.
Blatters Müdigkeit ist nicht mit der von Gesunden vergleichbar. Ständig fühlt er sich krank, geschwächt, erschöpft. Macht an guten Tagen kurze Spaziergänge, liegt an schlechten nur im Bett. Von 1000 Menschen haben zwei bis vier CFS. Jeder Vierte wird dauerhaft bettlägerig, nur 40 Prozent können weiterhin arbeiten.
Acht Gutachter des Abklärungsinstituts Basel (ABI) untersuchen Rudolf Blatter im Sommer. «Ich fühlte mich wie bei einem Verhör. Es gab kein Lächeln, kein Mitgefühl, kein Interesse», erinnert er sich. Eine Ärztin fällt ihr Urteil nach 20 Minuten: Konzentrationsstörungen gebe es keine. Eine andere Untersuchung zieht sich über vier Stunden. Der Befund – CFS, starke Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit – wird im Gesamtgutachten ausgeklammert.
Bescheid ohne Diagnose
Die IV-Stelle Bern informiert im September und beruft sich dabei auf den Bericht des ABI: 90 Prozent arbeitsfähig. Die Diagnose CFS, bis dahin mehrfach bestätigt, wird nicht einmal erwähnt. CFS-Patienten bekommen in den seltensten Fällen eine IV-Rente. «So landen etliche Betroffene auf dem Sozialamt, da sie zusätzlich zur Krankheit noch verarmen», bestätigt Heinz Rinderknecht vom Verein ME/CFS Schweiz. «Ist das der Sinn einer Invalidenversicherung?»
Doch Blatter hat einen Trumpf im Ärmel. Zeitgleich zu den IV-Abklärungen lässt er sich am Berner Inselspital untersuchen. Die Resultate stehen im krassen Gegensatz zum IV-Bericht: «Der Patient erfüllt alle internationalen Kriterien für die Diagnose einer ME/CFS», heisst es. Die Beschwerden seien als schwer einzustufen.
Im November der erste Etappensieg: Weil die Gutachten so unterschiedlich ausgefallen sind, müssen die Akten zurück ans ABI. Selbst die beratende Vertrauensärztin der IV-Stelle hält die Einschätzung für zu optimistisch.
Aber die Freude währt kurz, das ABI hält an seiner Beurteilung fest. Blatter könne seinen Job im hochsensiblen Sicherheitsbereich zu 70 Prozent ausüben. Praktisch: Wenn der Invaliditätsgrad unter 40 Prozent liegt, muss die IV nichts bezahlen.
Veralteter Befund
In einer Stellungnahme spricht der leitende Gutachter von erfinderischen Medizinern und subjektiven Beschwerden, die «immer wieder neu mit für Laien sehr schwerwiegend tönenden Namen» versehen werden. Gerade die «besonders gefährlich tönende Myalgische Enzephalomyelitis» sei ein sehr ungeeigneter Begriff. Treffender sei die «dem Psychiater zugeordnete Neurasthenie» (Nervenschwäche). Dieser Befund gilt als veraltet. In Blatters Fall ist er subjektiv und falsch.
Nun geht der Kampf in die nächste Runde. Eine leitende Insel-Ärztin und Blatters Anwalt fechten das Gutachten an. «Mit der Antwort schiesst sich das ABI ins eigene Bein und verlässt den Boden der Neutralität», sagt Anwalt Rainer Deecke. Das Schreiben ignoriere neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Es drücke eine Geringschätzung aus, enthalte Mängel und sei widersprüchlich.
Bleiben die Voraussetzungen, wie sie sind, haben Betroffene weiterhin wenig Chancen auf eine Rente. Das Problem dürfte sich sogar verschärfen. CFS kann als Langzeitfolge einer Covid-19-Erkrankung auftreten – auch bei jüngeren Personen mit leichtem Verlauf. Die internationale Forschung läuft auf Hochtouren, auch politisch wollen Betroffene nun etwas bewegen.
Und Rudolf Blatter? Wartet, kämpft und hofft – solange es eben dauert.