Anwaltsrevue – Kann, soll, muss oder darf die Berufungsinstanz materiell neu entscheiden? Martin Hablützel

 Der Autor stellt sich auf den Standpunkt, dass die Rechts-mittelinstanz im Verfahren der zivilrechtlichen Berufung einen neuen Entscheid in der Sache fällen soll, selbst wenn die Vorinstanz den Sachverhalt im erstinstanzlichen Verfahren nicht umfassend abklärte odernicht den gesamten Streitgegenstandbeurteilte. Der Kläger bzw. dessen Rechtsvertretersteht ohnehin vor dem Dilemma, sämtliche Elemente des Streitgegenstandes und nicht einzigdie von der Vorinstanz beurteilten, nochmals darzu-tun. Der folgende Beitrag vermag bestenfalls Ansätze aufzuzeigen, wie diesem Dilemma zu begegnen ist. Erst die Praxis wird aber zeigen, was in der Berufungsschrift verlangt wird. Weil die entsprechenden Bestimmungen in Art. 318 ZPO undArt. 408/409 StPO und die Prozess-grundsätze im Zivil-und Strafverfahren divergieren, wird einzig auf dasVerfahren der zivilrechtlichen Berufung Bezug genommen.

  1. Der Berufungsentscheid 

1.1 Die gesetzliche Bestimmung in Art. 318 Abs. 1 ZPO

Gemäss Art. 318 Abs. 1 ZPO kann die Berufungsinstanz den angefochtenen Entscheid bestätigen; sie kann neu entscheiden oder die Sache an die erste Instanz zurückweisen. Letzteres indessen nur, sofern ein we-sentlicher Teil der Klage nicht beurteilt wurde oder der Sachverhalt in wesentlichen Teilen zu vervollständigen ist. 

1.2 Regel und Ausnahme

Der Gesetzgeber hat, um den Prozess nicht unnötig zu verlängern, die reformatorische Wirkung damit zur Regel  und die Zurückweisung zur Ausnahme erhoben1. Daraus ist zu folgern, dass die Berufungsinstanz einen Entscheid in der Sache fällen muss, wenn die Vorinstanz den we-sentlichen Sachverhalt feststellte und die erheblichen Fra-gen beurteilte. Indem ihr Art. 316 Abs. 3 ZPO die Befugnis einräumt, – im ordentlichen Verfahren uneingeschränkt2 – Beweise abzunehmen, ist sie somit gehalten, den Sach-verhalt in den strittigen Teilen zu vervollständigen. Nach-dem die Kassation des Urteils nur als Kann-Vorschrift formuliert ist, soll – entsprechend dem gesetzgeberisch gewünschten Regelfall – ein Urteil in der Sache gefällt werden, selbst wenn die erste Instanz bedeutende Teile der Klage nicht beurteilte. 

 1.3 Urteil innert angemessener Frist

Das Prinzip der materiellen Rechtsverwirklichung bein-haltet das Recht auf einen (letztinstanzlichen) Entscheid innert angemessener Zeit. Der Garantie eines gerechten Verfahrens ist die verfassungsmässig in Art. 29 BV und konventionsrechtlich in Art. 6 Ziff. 1 EMRK statuierte Beur-teilung innert (bzw. Innerhalb) angemessener Frist imma-nent ; « Justice delayed is justice denied ». 

Die Zeit setzt den Kläger erheblichem Druck auf Teilver-zicht seiner Forderung aus. Zudem untergräbt der Zeitab-lauf dessen Möglichkeit, den von ihm verlangten Beweis zu führen. Die Grenze bildet somit nicht das Verbot der Rechtsverzögerung – dem ohnehin mit keinem Instrument wirksam begegnet werden kann3 – sondern verlangt wird ein effektives Rechtssystem, welches eine (abschlies-sende, letztinstanzliche und vollstreckbare) Beurteilung einer Klage innert angemessener Frist sicherstellt4. Die Beurteilung, wann die Gesamtdauer einer gerichtlichen Auseinandersetzung als unangemessen gilt, hängt von der Bedeutung der Streitsache, der Komplexität des Falles und dem Verhalten der Parteien und Behörden im Verfahr-en ab.

Die Berufungsinstanz ist deshalb gehalten, die Gesamtdauer des Verfahrens ab Klageeinleitung vor ers-ter Instanz bis zum mutmasslichen Abschluss durch ein bundesgerichtliches Urteil abzuwägen, um die Frage zu beantworten, ob eine – regelmässig längerdauernde – Rückweisung unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Ga-rantien, noch tunlich ist. Dabei ist die bisherige Verfa-hrensdauer (Ver-fahren der ersten und der Berufungs-Instanz) zu berücksichtigen. Dies gilt umso mehr, weil der Rückweisungsentscheid und der neue erstinstanzliche Entscheid wiederum anfechtbar und damit geeignet sind, erhebliche Verfahrensverzögerung zu bewirken.6 

Unter Nachachtung der verfassungs- und konventions-rechtlichen Garantien hat die Berufungsinstanz somit – allenfalls bei Ergänzung des Beweisverfahrens – re-gelmässig einen eigenen Entscheid in der Sache zu fällen. 

1.4 Verletzung des Double Instance-Prinzips?

In Zivilstreitigkeiten gilt in der Schweiz das sogenannte Double Instance-Prinzip (Art. 75 BGG). Abstellend darauf hat die kantonale Gerichtsorganisation (Art. 3 ZPO) eine Beurteilung bei einer unteren und einer oberen Instanz, welche volle Kognition geniesst (Art. 310 ZPO), sicherzus-tellen. Das Novenrecht bleibt indessen – auf echte und unverschuldet nicht vorgebrachte unechte Noven – beschränkt. 

Wird dieses Prinzip nun mittels Sachverhaltsermittlungen der oberen Instanz und eigener Beweisabnahmen un-zulässig durchbrochen? Das letzte Wort puncto Feststel-lung des Sachverhalts und Beweiswürdigung hat in jedem Fall die obere kantonale Instanz. Insofern ist gegen deren Ergänzungen des Sachverhalts nichts einzuwenden. Das Prinzip der Double Instance wird aber auch – etwa im Bereiche der Handelsgerichtsbarkeit (Art. 6 Abs. 1 u. 2 ZPO; Art. 75 Abs. 2 lit. b BGG) durchbrochen7. Weder Verfassungs- noch Konventionsrecht verlangen einen Instanzenzug über 2 oder 3 Instanzen. Das Schweize-rische Rechtssystem gewährt bei Vorliegen bestimmter Streitwerte oder bei Rechtsfragen von grundlegender Bedeutung indessen ohnehin den Weiterzug an eine höhere Instanz. 

Das Double Instance Prinzip stellt somit kein unverzichtba-rer Bestandteil der kantonalen Gerichtsbarkeit dar. Die Prinzipien der Durchsetzbarkeit klägerischer Ansprüche innert angemessener Verfahrensdauer sind höher zu werten. 

2. Die Berufung 

2.1 Berufungsanträge und Rügen

Darf oder muss die Rechtsmittelinstanz die Sache zurückweisen, wenn ein wesentlicher Teil der Klage nicht beurteilt wurde oder der Sachverhalt zu vervollständigen ist? Können die Rügen in der Berufung auf das von der unteren Instanz Beurteilte beschränkt werden; im Vertrauen darauf, dass – bei Gutheissung – eine Rückweisung erfolgt? Oder muss der Berufungskläger nicht doch damit rechnen, dass die Rechtsmittelinstanz sämtliche Elemente der Klage beurteilt und einen neuen Entscheid fällt? Hat die Berufungsinstanz dem Berufungskläger dabei Gelegenheit …

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