Abzüge vom Tabellenlohn: Bundesgericht appelliert an die kantonalen Gerichte

9. Juni 2022

Anlässlich der öffentlichen Urteilsberatung vom 9. März 2022 wurde am Bundesgericht über die LSE-Tabellenlöhne und die Abzüge davon beraten. Anlass zu der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, über die im Verfahren 8C_256/2021 (zur Publikation vorgesehen) zu entscheiden war, hatten die Untersuchungen im «Weissenstein-Gutachten», der BASS Studie sowie von Prof. Gabriela Riemer-Kafka und Dr. Urban Schwegler gegeben. Alle Untersuchungen zeigten, dass die bisherige als restriktiv zu bezeichnende Praxis der Gerichte zur Anwendung der LSE Tabellenlöhne und der leidensbedingten Abzüge die effektiven Erwerbspotentiale von invaliden Personen auf den freien Arbeitsmarkt nicht abzubilden vermögen. Obwohl die Beschwerde vor Bundesgericht mit drei zu zwei Stimmen abgewiesen wurde, könnte das an der öffentlichen Beratung diskutierte dennoch eine Wirkung zeigen.

Die eingangs erwähnten Untersuchungen zeigen auf, dass die von den Sozialversicherungen berücksichtigten hypothetischen Invalideneinkommen regelmässig viel zu hoch sind, was dazu führt, dass zahlreiche Rentenanträge aufgrund eines zu geringen Invaliditätsgrades abgelehnt werden. Obwohl das Bundesgericht an der bestehenden Praxis nichts geändert hat, wurden an der öffentlichen Urteilsberatung, an der neben der Presse und Geschädigtenvertreter auch die kantonalen Gerichte zahlreich vertreten waren, wichtige Ausführungen im Zusammenhang mit dieser Praxis gemacht. So wurde festgestellt, mit der geltenden Praxis seien Abzüge bis zu 25% möglich. Mit einem solchen Abzug werde ein Wert erzielt, der sogar unter dem untersten Quartil der Tabellenlöhne liege (das Abstellen auf das unterste Quartil war einer der Vorschläge aus dem Weissenstein-Gutachten). Als problematisch wurde von einer Seite her der Umstand gewertet, dass Abzüge von 25% heute kaum mehr gewährt würden, womit der Abzug vom Tabellenlohn seine Funktion als Korrektiv nicht mehr erfüllen könne. Ebenfalls problematisch sei der Umstand, dass das Alter heute vermehrt als lohnsteigernd gewertet werde, was realitätsfremd sei. Denn eine berufliche Umorientierung im Alter sei klarerweise lohnsenkend.

Die öffentliche Urteilsberatung hat gezeigt, dass trotz der abgewiesenen Beschwerde bei der Anwendung der Tabellenlöhne und insbesondere der Abzüge davon Handlungsbedarf besteht. Der Ball liegt aber nicht beim Bundesgericht, sondern bei den unteren kantonalen Instanzen und den Versicherungen. Denn das Bundesgericht kann die Ermessenentscheide der kantonalen Instanzen nur in sehr beschränktem Umfang korrigieren. Es ist demnach die Aufgabe der kantonalen Gerichte und der Versicherungen ihr Ermessen auszuschöpfen, um fairere Rentenentscheide sicherzustellen, so der Appell des Bundesgerichts.

Nun ist es zwar so, dass mit der Gesetzesrevision im Rahmen der Weiterentwicklung der IV (WEIV) seit Beginn des laufenden Jahres nur noch bei Teilzeitarbeit von 50% und weniger ein Abzug vom Tabellenlohn von 10% gemacht werden kann (zur Problematik dieser Änderung kann auf unseren Newsletterbeitrag vom März 2022 verwiesen werden). Die neurechtlichen Regelungen gelten jedoch nicht sofort für alle Versicherten. Bei den über 55-Jährigen kommen sie gemäss den Übergangsbestimmungen nicht mehr zur Anwendung. Bei den unter 55-Jährigen kommen die neuen Regelungen erst bei einer Revision oder im Falle der unter 30-Jährigen spätestens nach 10 Jahren zum Tragen. Die bisherige Praxis um die Abzüge von den Tabellenlöhnen wird uns demnach auch in den kommenden Jahren weiterhin beschäftigen.

In einem kürzlich von schadenanwaelte erstrittenen Urteil hat das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich bei einem 61-jährigen Mandanten zwar festgestellt, dass er seine Restarbeitsfähigkeit noch immer verwerten kann. Gleichzeitig stellte das Gericht aber fest, das Alter, die fehlende Bildung und die lange Abwesenheit vom Arbeitsmarkt müssten als lohnmindernde Faktoren berücksichtigt werden. Daher sei ein Abzug vom Tabellenlohn von 15% (bei einer gutachterlich festgestellten Arbeitsfähigkeit von 70%) angemessen. Die IV hatte zuvor entschieden, dass kein Abzug notwendig sei.

Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft vermehrt solche Entscheide ergehen werden. Immerhin scheint der Appell des Bundesgerichtes beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich erhört worden zu sein.

Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. März 2022